Hamburg. Acht Teile umfasst die erste Staffel der Adaption des Jahrhundertromans. Das kolumbianische Nationalheiligtum glitzert wieder, und wie.
Jedem fühlenden Wesen muss es das Herz brechen, wenn er diesen Pionier, Grenzgänger, Utopisten, Neugierigen, Lebendigen am Baum sieht. Sie haben ihn dort festgebunden. Nur so glauben sie, seine Tollerei, sein Rasen in den Griff zu bekommen. Aber José Arcadio Buendía ist auch so verloren. Der Wahnsinn hat ihn geholt. Er strebte nach Unendlichkeit, und nun registriert der arme Mann verzweifelt: „Wir werden geboren, um zu sterben.“
Ach, José Arcadio Buendía! Endlich hast du es verstanden, endlich fügst du dich, wenn auch hochtragisch, ins Unvermeidliche. „Hundert Jahre Einsamkeit“, die neue, famose Serie auf Netflix, ist auch auf dem Bildschirm eine Parabel auf Südamerika und den Glauben des Menschen sowohl an die Wissenschaft als auch an das Übersinnliche. Eine Erzählung über den steten Optimismus, der so lange anhält, bis er es nicht mehr tut. Acht Teile hat dieser berauschende Bestsellerstoff in der ersten Staffel, eine zweite ist versprochen.
„Hundert Jahre Einsamkeit“ auf Netflix: Einer der bekanntesten Stoffe der Weltliteratur
Der Roman von Gabriel García Márquez (1927–2014) ist einer der größten und erfolgreichsten Stoffe der Weltliteratur und kolumbianisches Nationalerbe. Márquez selbst, der literarische Agent des magischen Realismus, von dem es unlängst posthum Unveröffentlichtes zu lesen gab, stand einer Verfilmung zeit seines Lebens skeptisch gegenüber. Seine Nachfahren dagegen waren offen für die Streaming-Pläne und unterstützten das Projekt (Regie: Alex García López und Laura Mora), das in Kolumbien und mit kolumbianischen Schauspielerinnen und Schauspielern gedreht wurde.
Die Geschichte des Weltenbauers José Arcadio Buendía (Marco González/Diego Vásquez) setzt ein mit dem Auszug aus seinem Heimatdorf. Gegen den Willen der Familie heiratete er seine Cousine Úrsula (Susana Morales/Marleyda Soto). Danach ermordete er einen Mann und flieht anschließend, begleitet von seinen Getreuen, in den Dschungel, um dem Geist des Toten zu entkommen. Im Dschungel läuft er im Kreis, er findet das Meer nicht. Kurzentschlossen gründet der älteste Buendía das sagenhafte Macondo.
Neue Serie auf Netflix: „Hundert Jahre Einsamkeit“ und das magische Prinzip
Jenen Ort, der jenseits der Zivilisation eine neue Zivilisation schafft. Umherziehende kommen in den Ort, fahrendes Volk, und spätestens mit ihnen erreicht auch die Magie, erreichen die übersinnlichen Geschehnisse, die rational nicht zu erklären sind, Macondo. José Arcadio trifft auf den Anführer der Zuzügler, Melchíades, der zu seinem Idol werden wird, weil er die Geheimnisse der Welt zu ergründen sucht oder sie überhaupt erst in die Welt bringt.
Sechs Generationen Geschichte des Buendía-Clans werden in „Hundert Jahre Einsamkeit“ (und hier weitgehend chronologisch) erzählt; die Serie nimmt sich dieses gewaltigen Stoffes, den ersten vier Folgen nach zu urteilen, mit narrativer Großzügigkeit an. Wer glaubte, man könne das Epos nicht adaptieren, sieht sich jedenfalls eines Besseren belehrt.
„Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez: großartige Darsteller
Die Story ist sinnlich, prall und mit schönen Bildern in Szene gesetzt. Dass Streamingdienste das Kino längst ins Reihenhaus-Wohnzimmer geholt haben, ist eine Erkenntnis, die man bei Ansicht von „Hundert Jahre Einsamkeit“ einmal mehr haben kann. Die Darstellerriege ist großartig, und dass einem der lange Atem, dessen Notwendigkeit man schon von der Lektüre des Romans kennt, beinah anstrengungslos entweicht, spricht unbedingt für diese opulente Produktion.
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Den Symbolismus und die bildreiche Sprache der Vorlage verwandelt diese Serie jedenfalls in ein visuelles Fest. Das Findelkind Rebeca, die gruselige Erdfresserin, schickt die Bewohner Macondos vorübergehend in einen tiefen Schlaf – auf dem Sofa selbst bleibt man hellwach, zu gespannt ist man, wie die Geschichte der Buendías, deren männliche Linie zum Verwechseln gleiche Namen trägt (wie man einst beim Lesen schon stöhnte!), wie „Hundert Jahre Einsamkeit“ weitergeht.
In den ersten Folgen deutet sich das Unheil des paradiesischen Ortes schon an. In Person des Richters hält der Staat Einzug in die Utopie der Gleichheit. Und dass der Bürgerkrieg Macondo nicht verschonen wird, weiß man von der allererste Szene an, einem erzählerischen Vorgriff, in der ein Buendía vor dem Erschießungskommando steht. „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist glitzernde Unterhaltung, der Zauber des Stoffes verliert kein Stück von seiner Kraft.
„Hundert Jahre Einsamkeit“ ist ab dem 11. Dezember auf Netflix abrufbar.
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