Hamburg. Blut saufen im deutsch-polnischen Grenzgebiet: Der ARD-Achtteiler traut sich viele Leichen und auch sonst allerhand zu. Überraschung!

Es dürfte die vierte Folge sein, bei der dann klar ist, warum dieser Achtteiler im Spätprogramm der ARD läuft: Es ist alles doch eine ziemlich blutige Angelegenheit. Auf eine Art, mit der man trotz des Knallstarts von „Oderbruch“, der erstaunlichen neuen Serienerzählung (Chefautor: Arend Remmers, Regie: Adolfo J. Kolmerer, Christian Alvart) im Ersten, nicht gerechnet hätte. Dabei sind es zu Beginn schon satte 248 Leichen, die sich auf einem brachliegenden Feld in einem der ausgestorbensten Ecken Deutschlands stapeln. Ein stinkender Kadaverhaufen auf dem Morast der Geschichte: Verbuddelt sind in dieser Gegend grundsätzlich auch noch Leichen von Nazis und Soldaten der Roten Armee.

Der stets ausgehfein gestylte polnische Ermittler Stanislaw Zajak (Lucas Gregorowicz) macht sich nach der Ortsbegehung erst mal die Schuhe sauber. Sicher eher ein Akt der Figurenzeichnung; allerdings kann er sich, als national Unbefleckter ohne diktatorischen Ballast, den Unrat halt auch einfach so wegschrubben. Er hat zunächst mal sowieso den unabhängigsten Blick auf das Geschehen, auf das sich die Forensik mit breit angelegter DNA-Analyse stürzt, um die Identität der Toten festzustellen. Eins darf man verraten: Sie waren Herumtreiber, Obdachlose, Junkies; Menschen, die über einen langen Zeitraum einer nach dem anderen verloren gingen, ohne dass irgendjemand sie vermisst hätte.

„Oderbruch“ in der ARD: Eine atmosphärisch dichte Grusel-Show

Darüber hinaus kann es an dieser Stelle zwecks größerem Vergnügen beim vermutlichen und von den Machern intendierten Weg-Bingen (linear laufen jeweils vier Teile am 19. und 26.1., in der Mediathek sind alle Folgen ab 19.1.) nur darum gehen, bloß nicht zu viel zu verraten. Erwähnt sei auf jeden Fall, dass sich die ARD etwas zutraut mit „Oderbruch“ – nämlich ein eher junges als altes Publikum mit einer atmosphärisch dichten Gruselshow zu unterhalten. In dem nach „True Detective“ zweiten Serien-Highlight des noch jungen Jahres geht es um die Jagd nach einem Massenmörder, um eine abgeschlagene Region im deutsch-polnischen Grenzgebiet, um tief sitzende familiäre Konflikte, um „Wölfe“ und „Schafe“. „Oderbruch“ ist ein 400-Minuten-Mystery-Thriller, der nur im ersten Drittel stellenweise etwas lahm wirkt. Ein fantastischer Stoff, der seit Jahrhunderten zirkuliert: eine German Horror Story am äußersten Rand der Republik.

Mehr zum Thema

Der Ort heißt Krewlow, ist ausgeblutet (wortwörtlich: die 248 Leichen sind leer, wie Schlachtvieh), das Ende der DDR, die Landflucht. Stanislaw Zajak heftet sich nicht allein an die Spur des monumentalen Verbrechens. Er bekommt es mit zwei auf dramatische Weise mit dem Ort verbundenen Einheimischen zutun. Roland Voit (Felix Kramer) ist Kommissar, er wurde als Ortskundiger ins Team geholt. Maggie Kring (Karoline Schuch), die Freundin von einst, ist seine erste große Liebe. Ex-Polizistin ist sie auch. Und 20 Jahre nicht zu Hause gewesen. Sie kehrt nun zum Hof ihrer creepy Eltern zurück. Ihr Vater Arthur Kring (Volkmar Kleinert) rückt bald in den Mittelpunkt der Ermittlungen, ebenso wie der Nachbar „Pulver-Paul“ Möbius (André Hennicke), ein durchgeknallter Waffennarr.

ARD-Topserie „Oderbruch“: Die Spur führt nach Polen

Maggie spürt, dass die Leichen etwas mit dem Verschwinden ihres Bruder beim Oderhochwasser 1997 zu tun haben. Offiziell gilt er als tot, es gibt einen Grabstein. Sie glaubte nie an diesen Tod. Allein macht Maggie sich auf die Suche nach Antworten und dabei auch immer wieder auf den Weg nach Polen. Dorthin blendet die Erzählung häufig über; in einem Internat ist eine Schülerin spurlos verschwunden, auch sonst tragen sich dort bizarre Dinge zu. Noch mehr widmet sich die Geschichte aber den Jugendtagen von Maggie, Roland, Marius und Kai. Kai wird von seinem Vater misshandelt, Maggie ist sein engagiertes Schutzschild. Aus dieser Rolle resultiert ihr lebenslanger Konflikt mit ihren Eltern, von denen sie in der Erzählgegenwart maximal entfremdet ist.

Maggie Kring (Karoline Schuch) am Grab ihres im Teenageralter gestorbenen Bruders. Ist er wirklich in der Oderflut ertrunken?
Maggie Kring (Karoline Schuch) am Grab ihres im Teenageralter gestorbenen Bruders. Ist er wirklich in der Oderflut ertrunken? © ARD Degeto/Syrreal Dogs GmbH/CBS | ARD Degeto/Syrreal Dogs GmbH

Die vielen Rückblicke in die Jugendzeit entblättern in packenden Szenen die Tragik des Freundschafts- und Familienbundes. Samt spät zündender Weltkriegsgranate und wunderlichem Grusel-Bruder. Der Horror kann in dieser Serie grell daherkommen, aber auch eher subtil sein, etwa wenn er sich im Blick eines Vaters auf sein Kind offenbart. In „Oderbruch“ haben viele Leute Leichen im Keller, es gibt einige Twists und schauriges Entertainment mit keinerlei Spannungsabfall. Dass die Produktion auch etwas für Zuschauerinnen und Zuschauer ist, die keine Liebhaber des Genres sind und an dem Punkt seltsam betroffen auf den Bildschirm starren, als „Oderbruch“ seine eigentliche Gestalt enthüllt, liegt an dem Look und der Qualität jener. In „Oderbruch“ sind, das ist ungewohnt bei vielen deutschen Serien, sogar die Dialoge meist unpeinlich.

podcast-image

Das Ensemble spielt durch die Bank gut, das gilt auch für die jugendlichen Darsteller. Wenn der Serie etwas fehlt, ist das sicher der Humor. Gelacht wird hier ganz selten. Wie auch, der Achtteiler erzählt von Menschen, die über das Ungeheuerliche nicht mal sprechen dürfen. Der alte Kring sagt einmal zu seiner Tochter im Hinblick auf deren Wahrheitssuche in diesem Blut-Cocktail aus Verlust, Geschwisterliebe und Heimathass: „„Die Antworten könnten dich dein Leben kosten.“

Am Ende gibt es einen prächtigen Cliffhanger. Man hofft bei der ARD auf einen durchschlagenden Erfolg und womöglich eine zweite Staffel. Begrüßenswert wäre es.

„Oderbruch“ 19.1./26.1., 22:20 Uhr (jeweils vier Folgen), ARD. In der Mediathek ist die Serie ab 19.1. abrufbar.