Hamburg. In einem anderen Zeitalter bombte die IRA für ein vereinigtes Irland. Ein Top-Neunteiler erzählt von den Morden in den eigenen Reihen.
Der Kampf gegen die Obrigkeit ist in den Leuten von Anfang an drin, er wird vererbt. Die Muttermilch gibt ihn mit, im Falle von Dolours und Marian Price ist das auf jeden Fall so: Die beiden Schwestern aus Belfast sind die Kinder von zwei aufrechten Kämpfern für die irische Einigkeit und Unabhängigkeit von der Krone. Aber an den bewaffneten Kampf wollen sie zunächst nicht glauben und nehmen an einem friedlichen Protestmarsch für die Gleichberechtigung der Katholiken in Nordirland teil. Ein protestantischer Mob verprügelt sie. Das war es dann mit dem Pazifismus.
Die Price-Schwestern ziehen mit der Irish Republican Army (IRA) in den Krieg für ein vereinigtes Irland. Es ist ein Untergrundkampf mit Bomben und Attentaten, der insgesamt 53 Opfer nach sich zieht. Die IRA bringt aber auch ihre eigenen Leute um: Davon erzählt nun die großartige und fesselnde Serie „Say Nothing“ auf Disney+. Sie basiert auf dem wichtigen gleichnamigen Buch des preisgekrönten US-amerikanischen Investigativjournalisten Patrick Radden Keefe, der tief in die Geschichte der IRA hinabtauchte. Und dabei nicht nur auf Dolours und Marian Price stieß, sondern auch auf den späteren Sinn-Féin-Politiker Gerry Adams. Der Neunteiler auf Disney+ beruht gänzlich auf realen Vorkommnissen – und ist glänzend inszeniert.
„Say Nothing“ auf Disney+: Die IRA tötete Verräter und Spitzel in den eigenen Reihen
Im Mittelpunkt der Handlung steht besonders Dolours Price (1950-2013, dargestellt von Lola Petticrew und Maxine Peake), die schnell zu einer Art Handlangerin des IRA-Chefs in Belfast wird. Dolours ist als Chauffeurin im Einsatz, wenn die gnadenlosen Katholiken (angebliche) Verräter und Spitzel bestrafen. Dolours fährt sie zu ihrer Hinrichtung. Später wird sie gemeinsam mit ihrer Schwester nach einem Bombenattentat in London acht Jahre im Gefängnis verbringen.
Und noch später ringt sie mit den Geistern der Vergangenheit. „Say Nothing“ handelt vom Preis, den man zahlen muss, wenn man in den Kampf zieht und einer gewaltbereiten Gruppierung angehört. Wie gerecht ist dieser Kampf? Wie weit darf man gehen? Dolours Price‘ Radikalität zeigt sich in dem Hungerstreik, in den sie mit ihrer Schwester tritt, um aus dem englischen ins irische Gefängnis verlegt zu werden. Und sie offenbart sich gewissermaßen auch in der äußerst kritischen Haltung, die sie Gerry Adams (dargestellt von Josh Finan und Michael Colgan) später entgegenbringt: Er war es, der in Belfast die Strippen zog.
„Say Nothing“ auf Disney+: Gerry Adams will nie zur IRA gehört haben
Adams wurde zum bekanntesten Sinn-Féin-Gesicht, als Mann, der die IRA verriet: Er sei dort nie Mitglied gewesen, behauptete Adams zeit seines Politikerlebens. „Say Nothing“, erzählt klar eine andere Geschichte, aber nach jeder Folge gibt es den Hinweis darauf, dass Gerry Adams auf die Feststellung Wert legt, eben nicht zur IRA gehört zu haben. Dolours Price haderte stark damit, wie der Auftraggeber von einst und spätere Friedensbringer eine auf Lügen gebaute politische Karriere hinlegte, ganz zu schweigen von seiner Aufgabe der Ideale.
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Die Serie porträtiert die IRA als fanatische Gruppierung, die den katholischen Teil der nordirischen Bevölkerung, der im Vergleich zum protestantischen gesellschaftlich deklassiert war, in eine Art Geiselhaft nahm. Das Schicksal von Jean McConville, einer alleinerziehenden Mutter von zehn Kindern, nimmt breiten Raum in dieser fesselnden Geschichte eines Sündenfalls ein. McConville wurde 1972 entführt, sie gehört zu den knapp einem Dutzend Verschwundenen, die nie zurückkehrten. Die Siebziger- und Achtzigerjahre in Nordirland bilden den zeitlichen Kern dieser Serie; damals konnten IRA-Leute im Kampf Augenlicht und Hände verlieren (wie die Tante der Price-Schwestern) und dennoch nichts bereuen. Auf eine bestimmte Weise führten sie einen gerechten Kampf. Auch diese Seite des Konflikts versucht die Serie zu beleuchten.
„Say Nothing“ auf Disney+: Das vibrierende Zeugnis einer traumatischen Zeit
Rechnungen beglichen wurden, zumindest ansatzweise, erst viel später, als die Hinterbliebenen der Ermordeten Aufklärung über deren Schicksal einforderten. Gerry Adams überstand auch das weitgehend unbeschadet, während Dolours und Marian Price auf je unterschiedliche Weise ihre dramatischen Erlebnisse verarbeiteten. Als sie wegen des Londoner Bombenanschlags inhaftiert wurden, waren sie auf dem Höhepunkt ihres Lebens: Sie flogen zwar auf, hatten aber auch für enorm viel Publicity für die irische Sache gesorgt.
An das Leid, das der bewaffnete Kampf auch ihnen selbst (die Hungerstreik-Folge ist besonders intensiv) brachte, erinnern Buch und Serie. Letztere ist das vibrierende Zeugnis einer traumatischen Zeit, in der die Entwicklung der IRA von der Guerilla-artigen Befreiungscombo zur über Leichen gehenden selbsternannten Kriegspartei eindrucksvoll nachgezeichnet wird. Erzählt wird anhand der Täter und der Opfer, wobei der Fokus auf den Iren liegt, den Katholiken, die keinen Bock auf das englische Joch hatten. Nicht zuletzt stellt „Say Nothing“ eine weibliche Version des Nordirlandkonflikts („The Troubles“) dar.
„Say Nothing“ ist ab dem 14. November auf Disney+ abrufbar.
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