Harburg. Uhren ticken im Hamburger Süden anders als im Rest der Stadt. Was die Harburger aktuell beschäftigt und warum eine Prognose schwierig ist.
- Nur noch eine Woche ist es bis zu den Hamburger Bezirkswahlen 2024
- Das Abendblatt fasst in diesem Artikel die Themen zusammen, die im Hamburger Süden aktuell am drängendsten sind
- In den kommenden Tagen veröffentlichen wir dazu exlusiv die Antworten der wichtigsten Parteien
Knapp 180.000 Einwohner hat der Bezirk Harburg und in mehrfacher Hinsicht ist er im hamburgweiten Vergleich besonders: Fast ein Fünftel von ihnen ist unter 18 Jahren – mit einem durchschnittlichen Bewohneralter von 41 gehört Harburg zu den jüngeren Bezirken. Zudem ist Harburg multikulturell. Nahezu die Hälfte der Einwohner hat einen Migrationshintergrund, bei den Minderjährigen sind es drei Viertel.
Bezirkswahlen 2024 in Hamburg: Harburg ist die Wundertüte unter den Bezirken
50.000 Harburgerinnen und Harburger haben keinen deutschen Pass oder neben einem deutschen Pass noch einen anderen. „Zusammenleben in Vielfalt“ lautet daher auch das Leitbild, das sich der Bezirk gegeben hat. Die meisten Menschen hier leben es wie selbstverständlich.
In der Bezirksversammlung hat sich die Vielfalt noch nicht wirklich niedergeschlagen. Nur wenige der 51 Abgeordneten der aktuellen Wahlperiode haben Migrationshintergrund. Das wird sich auch nach den Bezirkswahlen am 9. Juni nicht signifikant ändern, denn auch auf den Kandidatenlisten für die 22. Harburger Bezirksversammlung finden sich kaum Bewerber mit Migrationshintergrund.
Der Bezirk Harburg gliedert sich in zwei Verwaltungsregionen, die durchaus unterschiedlich ticken: Harburg und Süderelbe. Das urbane Harburg ist eine Industriestadt mit allen Problemen eines Strukturwandels, die dazugehören – und doch pflegt Harburg auch 85 Jahre nach der Eingemeindung nach Groß-Hamburg das Selbstbewusstsein einer eigenständigen Stadt.
Obwohl Süderelbe deutlich weniger Einwohner hat, wird die Region besser behandelt
Die westlich von Harburg liegende Region Süderelbe weiß hingegen oft nicht, was sie ist oder sein möchte: Trabantenstadt oder loser Verbund dörflicher Stadtteile.
Letzteres trifft sicherlich auf die Süderelbe-Stadtteile Moorburg, Francop, Neuenfelde und Cranz zu. Hausbruch und Neugraben-Fischbek sind da ambivalenter. Obwohl Süderelbe nur halb so viele Einwohner hat wie Harburg, bestehen die Bezirksabgeordneten aus Süderelbe darauf, dass ihre Region mindestens gleich, wenn nicht besser behandelt wird – und kommen meistens damit durch.
So ist der Bezirk Harburg politisch aufgestellt
In der ablaufenden 21. Wahlperiode „regierte“ eine grün-rote Koalition im Harburger Rathaus, die zunächst als rot-grünes Bündnis mit je 14 Abgeordneten pro Fraktion aber einer hauchdünnen Wählerstimmenmehrheit bei der SPD gestartet war, bis der SPD-Abgeordnete Torsten Fuß unter vernehmlichem Getöse aus seiner Partei austrat.
Weitere Fraktionen waren die CDU mit 10 Abgeordneten, die Linke mit 5, die FDP mit 3 Abgeordneten sowie als Sonderfall die AfD, die in dieser einen Wahlperiode nacheinander drei verschiedene Fraktionen unterschiedlicher Stärke stellte. Als Partei hatten die Rechtsaußen fünf Mandate.
Den Harburgerinnen und Harburgern brennt einiges auf den Nägeln. Verkehr, Wohnungen, die Innenstadt und das Sicherheitsgefühl sind die wichtigsten Themen.
Thema Verkehr: Die wichtigsten europäischen Nord-Süd-Achsen auf Straße und Schiene verlaufen durch den Bezirk, hinzu kommt ein Großteil des Hamburger Hafenverkehrs und 90.000 Pendler aus dem südlichen Umland durchqueren auch noch zweimal am Tag den Bezirk Harburg. Besonders an den Magistralen und den Knotenpunkten macht sich das bemerkbar.
Die B 73 trennt nicht nur die Harburger Innenstadt von der einstigen Keimzelle und zugleich künftigem Zukunftsquartier Harburgs im Binnenhafen, sondern stellt in ihrem ganzen Verlauf eine harte und laute Grenze für die Stadtentwicklung dar. Die meisten Harburger befürworten deshalb den Bau der Hafenautobahn A26 Ost als Entlastung für die B 73. Als einzige Partei in der Bezirksversammlung sperren sich die Grünen dagegen.
Harburger Pendler, geplagt auf Straße und Schiene, feiern selten Velorouten
Der wichtigste Knotenpunkt im Harburger Straßensystem, der „Doppelknoten“ aus B73, Hannoverscher Straße und Moorstraße am Harburger Bahnhof wird gerade von Grund auf neu gebaut und gleichzeitig wird der Harburger ZOB runderneuert und erweitert. Zwei von neun Bauphasen dieser Operation am offenen Herzen sind bereits geschafft, aber die Baustelle bleibt noch zwei Jahre, während derer auch noch der wichtigste Bushalt im Harburger Nahverkehrssystem komplett wegfällt.
Und auch auf der Schiene sind die Harburger geplagt: Die S-Bahn als einzige Verbindung „nach Hamburg“ ist unzuverlässig, die Verkehrsbehörde bindet lieber die schicken Alsterstadtteile besser an die U-Bahn an, als den Hamburger Süden überhaupt mal. Wer ständig im Stau oder auf dem Bahnsteig stehenbleibt, statt zur Arbeit zu kommen, mag auch nicht mehr mitfeiern, wenn der Verkehrssenator in den Bezirk kommt, um einige hundert Meter Veloroute einzuweihen.
Entwicklung der Innenstadt bereitet den Harburgern Sorgen
Das Wohnen wird auch in Harburg zu einem wichtigen Thema. Während der Bezirk lange von der rasanten Mietenentwicklung Gesamt-Hamburgs abgekoppelt war, steigen die Wohnkosten nun auch hier spürbar. Da Harburg zu den einkommensschwächeren Bezirken gehört, werden vor allem Sozialwohnungen benötigt, allerdings fallen derzeit deutlich mehr davon aus der Mietbindung als neue gebaut werden können, denn auch in Harburg wird Baugrund knapp.
Ein einziges großes Neubaugebiet, die Fischbeker Reethen am äußersten Westrand des Bezirks, steht noch an.
Die Entwicklung der Innenstadt bereitet den Harburgern Sorgen. Während die mit einem Mega-Parkhaus ausgestattete ECE-Mall „Phoenix-Center“ brummt, finden nur noch wenige alteingesessene Harburger ihren Weg in die Fußgängerzone. Buntes Leben herrscht dort dennoch: Mittelständler mit Migrationshintergrund haben die Lüneburger Straße für ihre Geschäfte und Lokale entdeckt.
Ein Vorschlag der FDP, diesen Umstand positiv zu nutzen und für die Harburger Innenstadt mit dem Markennamen „Little Istanbul“ zu werben, fiel bei den anderen Bezirksfraktionen allerdings durch.
In Harburg gibt es Brennpunkte, die viele Bürgerinnen und Bürger meiden
Hinzu kommt die Schließung der Harburger Karstadt-Filiale. Hier eine Nachnutzung zu finden, die die östliche Innenstadt belebt, ist eine der großen Aufgaben für die 22. Bezirksversammlung.
Viele Harburger fühlen sich in ihrem Bezirk nicht sicher. Dabei sind die Verbrechensraten in Harburg deutlich langsamer aus ihrem Corona-Tief gekommen als im Rest der Hansestadt. Dennoch gibt es Brennpunkte, die die braven Bürger meiden, den Nordrand des Phoenix-Viertels etwa oder die Drogenhilfeeinrichtung Abrigado, obschon letztere die Menschen eher durch die Konfrontation mit Elend verunsichert, als durch tatsächliche Bedrohung.
Wahlprognose für Harburg ist schwierig, denn es gibt viele Unbekannte in der Rechnung
Eine Prognose darüber, welche Mehrheiten die Harburger Politik in den nächsten fünf Jahren gestalten, ist schwierig, denn es gibt viele Unbekannte in der Rechnung. Harburg ist traditionell eine Hochburg der SPD. Die allerdings hat bereits bei der letzten Wahl Federn lassen müssen und nur einen hauchdünnen Stimmenvorsprung vor den Grünen errungen, mit denen sie dann eine Koalition einging.
Die SPD müsste eigentlich leicht dazugewinnen, ist aber innerlich zerrissen und hat im Zuge des Zwists ausgerechnet ihren Verkehrsexperten Frank Wiesner bei der Kandidatenaufstellung ausgebootet. Angesichts der fulminanten Verkehrsprobleme könnte das Wählervertrauen kosten.
Die Grünen setzen auf eine fahrradfreundliche Verkehrspolitik
Die Grünen hatten in der Koalition zuletzt die Nase vorn, weil der SPD ein Abgeordneter von der Fahne gegangen war. Die Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidatin Bianca Blomenkamp blieb in der Öffentlichkeit allerdings blass und überließ das Rampenlicht lieber den jeweiligen Fachpolitikern ihrer Fraktion.
Diese setzten und setzen unter anderem auf eine sehr fahrradfreundliche Verkehrspolitik zulasten von Parkplätzen und fließendem Autoverkehr. Das sorgte mehr als einmal für Unmut, in der Koalition, wie auch in der Bevölkerung. Prognose: leichte Verluste.
CDU-Spitzenkandidat kann sich vorstellen, Partner einer Koalition zu werden
Die CDU dürfte vom Bundestrend profitieren und hinzugewinnen. Zwar hat sich mit Ralf Dieter Fischer ihr prominentester Bezirkspolitiker in den Ruhestand verabschiedet, aber seine bisherigen Stellvertreter an der Fraktionsspitze, Rainer Bliefernicht und Uwe Schneider, haben sich in den vergangenen Jahren gut genug profiliert, um das wettzumachen.
Spitzenkandidat Bliefernicht kann sich vorstellen, Partner einer Koalition zu werden. Erfahrung hat er in der Vergangenheit sowohl mit den Grünen als auch mit der SPD gesammelt. „Es ist aber auch fraglich, ob eine Zweierkoalition überhaupt ausreicht“, sagt er.
Für die Linken wird es spannend, für die FDP schwierig
Spannend wird, was mit den Linken passiert. Zwar zeigt der Bundestrend abwärts, aber im Bezirk gibt es keine Konkurrenz durch das Wagenknecht-Bündnis und die meisten Abgeordneten der Partei sind für pragmatische Sacharbeit anerkannt.
Die FDP hat sich bei der Kandidatenaufstellung im Losverfahren ihres Zugpferdes Viktoria Ehlers beraubt. Der auf diese Weise Spitzenkandidat gewordene Dirk Kannengießer ist im Bezirk ein unbeschriebenes Blatt und hat noch nicht viel getan, um das zu ändern. Dazu kommt der negative Bundestrend. Für die FDP wird es schwierig.
Bezirksamtsleiterin Sophie Fredenhagen muss sich zur Wiederwahl stellen
Die AfD ist in der vergangenen Wahlperiode hauptsächlich durch innere Fehden aufgefallen. Politische Arbeit fand kaum statt. Ob das die Stammwähler der Partei anficht, ist allerdings fraglich. Einige der konservativen AfD-Wähler dürften zur CDU zurückwandern. Verluste wahrscheinlich.
Spätestens im September steht Bezirksamtsleiterin Sophie Fredenhagen zur Wiederwahl an. Anders als die Bezirksamtsleiter vor ihr lebt sie nicht in Harburg, obwohl sie bei Amtsantritt einen Umzug in den Bezirk versprochen hatte.
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Die Harburger werden mit ihr nicht warm, auch viele Bezirkspolitiker nicht. Offiziell steht die SPD hinter Fredenhagen, aber auch hier wird es darauf ankommen, welches innerparteiliche Lager nach der Wahl die Mehrheit in der Fraktion hat. Die CDU spricht sich gegen Sophie Fredenhagen aus. Andere Parteien halten sich bedeckt.
Harburg wählt am 9. Juni: Warum eine Prognose mehr als schwierig ist
Im Herbst geht außerdem Verwaltungsdezernent Dierk Trispel in den Ruhestand. Dessen Nachbesetzung könnte bei der Bezirksamtsleiterin-Wahl eine Rolle spielen.
In der Vergangenheit hat es in Harburg schon mehrfach Koalitionsverhandlungs-Deals gegeben: Zustimmung zum Wunschkandidaten des einen Partners gegen eine als Vorschlagsrecht getarnte Besetzung des nächsten wichtigen Dezernentenpostens des anderen Koalitionärs. Fazit: Die Wahlen in Harburg werden spannend – wie eine Wundertüte.