Harburg. Mehr Einsätze, mehr Präsenz: In der Wilstorfer Straße geht die Polizei auf Verbrecherjagd – mit Erfolg. Wie ein Viertel wieder zusammenfindet.

„Straße der Gewalt“ oder „Hamburgs härtestes Pflaster“ – Schlagzeilen wie diese stigmatisieren das gesamte Phoenix-Viertel. Kriminalität gibt es hier unbestritten, doch selbst in einem so kleinen Quartier konzentriert sie sich an wenigen Punkten – wie etwa der Wilstorfer Straße, die den Westrand des Viertels im Süden Hamburg bildet. Weder die nicht-kriminelle Mehrheit der Bewohner, noch Bezirksamt und Polizei wollen hier tatenlos zusehen.

Seit einiger Zeit zeigen die Behörden deshalb noch einmal mehr Präsenz und koordinieren ihre Einsätze – mit sichtbarem Erfolg. Das Abendblatt hat mit Polizei und Verwaltung über die Lage im Phoenix-Viertel gesprochen.

Die Wilstorfer – eine urbane Einkaufsstraße, für die man von weither anreiste

Einst war „die Wilstorfer“ eine urbane Einkaufsstraße und repräsentativer Zugang zum Arbeiterquartier Phoenix-Viertel. Zahlreiche kleine Fachgeschäfte existierten hier und deckten nicht nur den Bedarf der Gummiarbeiter und Anwohner, sondern wurden aus ganz Harburg angesteuert. Eine Zoohandlung, eine auf Heilkräuter spezialisierte Drogerie, kleine Imbissbuden, in denen Arbeiter vor und nach der Schicht bei der Phoenix Hunger und gerne auch mal Durst stillten; der feinst­sortierte Eisenwarenhändler Massag oder Bäcker Mathewes, wo es auch sonntags frische Torte und Kuchen gab, ergaben einen bunten Geschäftsmix.

Vor rund einem Jahr schloss mit Fahrrad-Brinkmann das letzte Traditionsgeschäft. Der Niedergang solcher Fachgeschäfte trifft das Phoenix-Viertel nicht allein, doch hier zeigte er eine besondere Wirkung: Was in die Geschäfte nachzog, wurde mit den Jahren immer zweifelhafter.

„Früher war es auch nicht besser, aber es war anders“

„Ich wohne seit meiner Kindheit in der Wilstorfer Straße, mein Vater hatte früher einen Kiosk hier“, sagt Martina, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte und heute mit ihren drei Kindern, Hund und Ehemann immer noch in der Wilstorfer Straße wohnt. „Früher war es auch nicht besser, aber es war anders. Jeder konnte sich auf jeden verlassen. Das ist seit ein paar Jahren vorbei. Wo wir früher als Kinder gespielt haben, wird heute gedealt, und als Frau wird man so oft angequatscht, dass man abends gar nicht mehr allein auf die Straße gehen mag.“

2021: Bei einem Streit um Löhne im Wanderarbeiter-Milieu kommt es an der Wilstorfer Straße zu einer Schießerei. Die Polizei sichert Beweise.
2021: Bei einem Streit um Löhne im Wanderarbeiter-Milieu kommt es an der Wilstorfer Straße zu einer Schießerei. Die Polizei sichert Beweise. © Andre Lenthe Fotografie | Andre Lenthe Fotografie

Martina ist mit diesem mulmigen Gefühl nicht allein. Es gibt viele Faktoren, die das Sicherheitsgefühl der Menschen im Viertel beeinträchtigen: Gaststätten und Kulturvereine, die sich nach außen abschotten; skrupellose Vermieter, die in kleinen Wohnungen Wanderarbeiter in Stockbetten stapeln; Müll auf der Straße, zeitweise offener Drogenhandel.

In der Harburger Sicherheitskonferenz ist das Phoenix-Viertel immer ein Thema

Wenige Menschen sind dafür verantwortlich, aber viele sind betroffen. Gerade weil politisch rechte Kreise die Schlagzeilen um das Viertel gerne nutzen um die bunt gemischte Bevölkerung des Quartiers öffentlich unter ausländerfeindlichen Generalverdacht zu stellen. „Viele Bewohner des Viertels fühlen sich durch die Schlagzeilen diskriminiert, weil sie mit den wenigen Kriminellen in einen Topf geworfen werden“, weiß Oksan Karakus, Vorsitzende des SPD-Distrikts Harburg-Mitte, in dem auch das Phoenix-Viertel liegt, und Kreisvorsitzende der Harburger SPD. „Diese Leute wünschen sich, dass gegen die Kriminellen etwas unternommen wird.“

In der Harburger Sicherheitskonferenz, in der unter anderem Politik, Verwaltung und Polizei regelmäßig zusammenkommen, ist das Phoenix-Viertel deshalb ein Thema. „Wenn Frauen und Mädchen sich nicht mehr wohl dabei fühlen am Abend allein durch Straßen zu gehen – spätestens dann ist es Zeit zu handeln“, sagt Dirk Noetzel, Leiter des Polizeikommissariats 46 und damit Harburgs oberster Polizist. M mit der Bezirksverwaltung habe man ein Konzept erarbeitet, um Sicherheitsempfinden und Lebensqualität in dem Viertel wieder zu verbessern.

Über Jahre hatten die Bewohner die Dinge unter sich ausgemacht – nun akzeptieren sie die Präsenz der Polizei

„Zusatzkräfte der Polizei in Uniform und Zivil sind seit einigen Monaten an vielen Abenden in der Woche im Phoenix-Viertel und zeigen Präsenz“, sagt Noetzel, „wir kontrollieren Personen, halten Gefährderansprachen und stellen mehr Delikte im Bereich des Straßendeals fest.“

Die Strategie zeigt Erfolg: Kürzlich gelang es Drogenfahndern, eine Cannabis-Plantage in der Lassallestraße auszuheben und in zwei sogenannten „Läuferwohnungen“ in der Kalischer Straße elf Personen festzusetzen. Mittlerweile habe beim Drogenhandel eine Verdrängung stattgefunden, ehemalige Treffpunkte der Drogenszene seien aufgebrochen und die Orte wieder von der Bevölkerung angenommen worden, so Noetzel. Auch die „dunklen Ecken“ knapp außerhalb des Viertels hat die Polizei im Auge. „Wir sind auf einem guten Weg den Drogenhandel im Phoenix-Viertel zurückzudrängen, und die anhaltende starke Polizeipräsenz zeigt eine positive Wirkung.“

Die Arbeitsrate illegales Glücksspiel im Januar 2023 bei der Kontrolle einer Sportsbar im Phoenix-Viertel in Harburg. 
Die Arbeitsrate illegales Glücksspiel im Januar 2023 bei der Kontrolle einer Sportsbar im Phoenix-Viertel in Harburg.  © Lenthe-Medien | Lenthe-Medien

Dadurch werde auch das Vertrauen in die Polizei gestärkt. „Früher hat man kaum Notrufe aus dem Phoenix-Viertel erhalten. Man hatte gelernt, entweder wegzugucken oder die Probleme selbst zu lösen, teilweise auch handfest“, so Noetzel. Das habe sich verändert.

Auch die Stadtreinigung ist fast täglich im Viertel unterwegs

Auch die Stadtreinigung bekomme mehr Anrufe über illegal entsorgten Sperrmüll. Dies sei vor zwei Jahren noch vollkommen anders gewesen, da habe sich kaum jemand für den Müll auf den Straßen interessiert. „Mittlerweile ist die Stadtreinigung meines Wissens fast täglich im Phoenix-Viertel unterwegs und säubert die Straßen“, sagt Dennis Imhäuser vom Bezirksamt Harburg.

„Ich glaube, viele Menschen haben keine Bindung mehr zum Viertel und daher auch kein Bedürfnis in sauberen Straßen zu wohnen“, sagt eine Hausbesitzerin aus der Kalischerstraße den Abendblatt-Reportern. Die Frau war auch Augenzeugin, als die Polizei die Drogenwohnung stürmte. „Die Briefträgerin hat mir erzählt, dass sich zehn Menschen in der Wohnung aufhielten. In den anderen Wohnungen dieses Hauses liege Matratze an Matratze“, weiß sie zu berichten.“

Im Schnitt machen die Vermieter der Zweizimmerwohnung 2300 Euro im Monat

„Das ist eine Erkenntnis, die sich leider mit unseren Erfahrungen deckt“, so eine Mitarbeiterin des Zentrums für Wirtschaftsförderung, Bauen und Umwelt. „Erst in der vergangenen Woche haben wir ein Wohnhaus als Beherbergungsbetrieb eingestuft. Dort standen in mehreren Zweizimmerwohnungen insgesamt 40 Betten, rund 30 davon waren belegt“, so die Bezirksamtsmitarbeiterin.

Nach Auskunft der Bewohner zahlen sie dem Vermieter für ein Bett 400 Euro im Monat oder 15 Euro pro Nacht. „Das sind im Schnitt 2300 Euro pro Zweizimmerwohnung im Monat für den Vermieter, und es sind menschenunwürdige Zustände. Auch wenn es mir persönlich leidtut, diese 30 Menschen im Winter auf die Straße zu setzen, aber dem unlauteren Geschäftsgebaren muss man ein Ende setzen.“

Bauarbeiter sollten das hart verdiente Geld abends im Kulturverein ausgeben

Die Arbeiter würden morgens auf die Baustellen gebracht, dann geht es am Nachmittag mit dem Baubus zur Versorgung in einen Supermarkt und abends zunächst wieder in die Unterkunft. Danach sollten die Männer ihr hart verdientes Geld am besten noch in einem Kulturverein ausgeben. „Das ist eine Kreislaufwirtschaft im schlechtesten Sinne und auf Ausbeutung angelegt“, so die Bezirksamtsmitarbeiterin. Daher sei man froh, im Verbund behördenübergreifend tätig werden zu können.

Auch Barber-Shops sind in den Fokus der Arbeitsrate „Illegales Glücksspiel“ im Phoenix-Viertel geraten.
Auch Barber-Shops sind in den Fokus der Arbeitsrate „Illegales Glücksspiel“ im Phoenix-Viertel geraten. © Andre Lenthe | Andre Lenthe

Während der Kontrollen in den Corona-Jahren habe man im Bezirksamt festgestellt, dass ein koordiniertes und gemeinsames Vorgehen verschiedener Fachämter und Behörden effektiver ist, als die jeweiligen Kontrollen gesondert durchzuführen. Das habe man auf andere Gewerbekontrollen übertragen, heißt es aus dem Harburger Rathaus. Es gebe mittlerweile ein enges Vertrauensverhältnis zwischen den Behörden. Das Harburger Beispiel macht Schule: Beamte der Arbeitsrate „Illegales Glückspiel“ waren bereits in anderen Bezirken und sogar in benachbarten Bundesländern im Einsatz

Viele Kulturvereine fühlen sich in die Verbrecherecke gedrängt

Die Verunsicherung vor allem bei Kulturvereinen in Harburg ist mittlerweile groß. Teilweise fühlen sie sich zu Unrecht in eine Verbrecherecke gedrängt und von zahlreichen Polizeikontrollen schikaniert. „Nein, so ist das nicht“, weiß Uwe Dräger von der Arbeitsrate illegales Glücksspiel den Vorwurf zurück. „In Harburg gibt es zahlreiche Kulturvereine die ihrem Vereinszweck, nämlich dem Zusammenwirken der Kulturen, in hervorragender Weise nachkommen“, so Dräger.

Aber es gebe eben auch einige Schankbetriebe und Gaststätten, die sich hinter dem Schutz des Vereinsrechtes verstecken. Man schaue sich das vorher sehr genau an. „Es ist Vereinen nicht erlaubt, Glücksspielautomaten aufzustellen oder Alkohol auszuschenken“, sagt Dräger, „wenn sie Alkohol ausschenken möchten, dann brauchen sie eine gaststättenrechtliche Konzession und die ist im Regelfall nicht vorhanden.“

Die Zahl an Kulturvereinen im Phoenix-Viertel ist nach vielen Jahren erstmals rückläufig

Solche Vereine würden nicht nur gegen Konzessionsrecht verstoßen, sondern sie versteuern die Gewinne aus den illegal aufgestellten Automaten auch nicht und schädigen so die Gesellschaft.

.„Wenn Vereine, die sich eigentlich die Förderung des Austausches der Kulturen auf die Fahnen und in ihre Satzungen geschrieben haben, ihre Fenster dann aber verhängen oder Schilder aufhängen, die sagen: „Zutritt nur für Mitglieder über 18 Jahren“, schauen wir als Polizei genauer hin“, so Harburgs Polizeichef Dirk Noetzel. Dann werde man oft auch fündig, ob illegale Glücksspielautomaten oder Glückspielrunden, die um hohe Bargeldsummen zocken.

Erst Anfang März wurden zwei Fälle vor Gericht verhandelt, es wurden hohe Geldstrafen verhängt. Dies spricht sich offenbar herum: Die Zahl an Kulturvereinen im Phoenix-Viertel ist nach vielen Jahren erstmals rückläufig.

Eine Anwohnerin ist dankbar für die Präsenz der Polizei – und die Veränderung

Das schärfste Schwert bei den Kontrollen ist das Baurecht: Vereinsräume und Gaststätten müssen einen Notausgang vorhalten. Oftmals, so berichten die Beamten der Arbeitsrate, hätten Wirte ungenehmigt Wände eingezogen und die Fluchtwege verbaut. Wo das entdeckt wurde, sei es gelungen, Betriebe in denen es immer wieder Auffälligkeiten gab, längerfristig zu schließen.

„Ich merke, dass sich langsam etwas verändert im Viertel und endlich Ruhe in die Wilstorfer Straße einkehrt. Dafür bin ich sehr dankbar.“, sagt Martina „Ich bin zuversichtlich, dass sich auch der Blick auf die Polizeiarbeit im Viertel positiv verändert hat und Zeugen von Straftaten künftig Aussagen machen.“

Auffällig, allerdings: Keiner der von den Reportern befragten Einwohner wollte für die Berichterstattung über ihr Viertel namentlich zitiert werden.