Inselwart Volker Griebel sagt: “Nur wer mit sich selbst etwas anfangen kann, kann hier leben.“ Er betreibt mit seiner Familie eine Pension in Hamburgs kleinstem Stadtteil.
Die 47 Meter lange "MS-Flipper" neigt sich in der vom Sturm aufgewühlten Nordsee zur Seite. Die Gischt spritzt über die Reling des Ausflugsschiffes. Nach eineinhalb Stunden Fahrt sind bereits die Umrisse der drei Quadratkilometer großen Insel Neuwerk zu erkennen. Wenig später haben wir unser Ziel erreicht. Am Anleger steht Volker Griebel mit seinem gelben Wattwagen und wartet auf die Besucher.
"Herzlich willkommen. Jetzt vergessen Sie mal für ein paar Stunden den Alltag", sagt Griebel (53). Er schnalzt mit der Zunge. Seine beiden Mischblutpferde Sabrina und Amadeus setzen sich in Bewegung. Griebel ist auf "Nige Werk" geboren und seit vier Jahren der Inselwart. Sozusagen der Vermittler zwischen Bewohnern und Behörde, dem Bezirksamt Hamburg-Mitte. Sein Vorfahr Lüder Christian Griebel, ein Landwirt, siedelte sich 1862 als erster der Sippe auf Neuwerk an. Mit 15 Mitgliedern zählen die Griebels heute nicht nur zur ältesten, sondern auch zur größten Familie in Hamburgs kleinstem Stadtteil. 40 Bewohner leben auf Neuwerk, darunter zwölf Kinder. In der Inselschule unterrichtet Lehrerin Gisela Tiedemann zurzeit sieben Kinder.
"Wir sind zwar weit entfernt, aber wir fühlen uns trotzdem wie Hamburger", sagt Volker Griebel, der mit seiner Familie die Pension "Hus achtern Diek" betreibt. Ein Gästehaus mit 20 Betten und einem Heuboden. Zu seiner engeren Familie zählen seine Frau Afra (51), Sohn Stefan (32), Schwiegertochter Alina (36) und die Enkel Janna (8) und Kaya (4). Tochter Kati (31) arbeitet als Sozialpädagogin in Bremerhaven.
Nicht für jeden ist die Einsamkeit auf Neuwerk etwas. Außer zwei Briefkästen, vier Telefonzellen, fünf Wirtshäusern und einem Lebensmittelladen hat Neuwerk auf den ersten Blick nicht viel zu bieten. "Nur wer mit sich selbst etwas anfangen kann, kann hier leben", sagt Griebel. Zwischen Neuwerk und Sahlenburg (Cuxhaven) verkehrt ein Mal täglich die Fähre oder einer der elf Pferdewattwagen. Post und Lebensmittel werden bis zu drei Mal pro Woche geliefert.
"Für die Kinder ist die Insel ein Paradies", sagt Antje Göttsche. Die 37-Jährige betreibt das Hotel Leuchtturm. Das Wahrzeichen von Neuwerk ist von 1299 bis 1310 erbaut worden. Der Turm ist das älteste Gebäude der Hansestadt. Göttsche kommt aus Osterburg, einer kleinen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist ihrem Mann nach Neuwerk gefolgt, der hier für die Hamburg Port Authority arbeitet. "Die Spontaneität fehlt mir ein bisschen. Ich kann nicht mal eben mit einer Freundin einen Einkaufsbummel machen", sagt Antje Göttsche, während sie in ihrer Küche Kartoffeln schält für das Lieblingsgericht ihres Sohnes Julian (10). Das "Fischerfrühstück" - Bratkartoffeln mit Rührei und Krabben - ist eine Spezialität auf Neuwerk.
Im "Hus Achtern Diek" bereiten Griebels Frau Afra und Schwiegertochter Alina das Abendessen für ihre Gäste zu. Henning Paulsen (38) und Britta Kaufmann (34) aus Krumhörn gönnen sich ein verlängertes Wochenende auf Neuwerk. Morgen wollen sie sich im Nationalparkhaus über die Enstehungsgeschichte informieren. Bis zu 12 000 Touristen kommen jährlich auf die Insel.
Volker Griebel schaut auf die Uhr. Das Schiff, das uns zurück ans Festland bringen soll, fährt in einer Viertelstunde ab. Bei unserer Ankunft in Cuxhaven hat uns der Alltag wieder eingeholt.