Serie: Hamburgs Quartiere in Abendblatt und “Hamburg Journal“. Christin Hatting lebt seit drei Jahren mit Mann und Kind im Szeneviertel: “Man muß sein Leben dem Takt des Quartiers anpassen.“
Freitag abend im Schanzenviertel. Christin Hatting (31) sitzt auf der Piazza am Schulterblatt gegenüber der Roten Flora. Biertische stehen dicht an dicht vor den Lokalen, jeder Platz ist besetzt. Yuppie-Pärchen neben Alt-Hippie, Punker neben Banker, High Heel neben Birkenstock. Die Stimmung ist ausgelassen, die Nacht ist lau. Ein Hauch von Italien liegt in der Luft.
Plötzlich wird es laut. Ein paar Punks oben auf dem Dach der Roten Flora versuchen, mit E-Gitarren und Trommeln gegen die Partystimmung auf der Piazza anzugehen. "So ist das hier in der Schanze eben", sagt Christin Hatting achselzuckend. "Ein bißchen Randale gehört dazu."
Seit drei Jahren wohnt sie in dem kleinen Szeneviertel. Es hat seinen Namen von der Verteidigungsanlage Sternschanze, die 1682 auf dem Gelände des heutigen Schanzenparks gebaut wurde. Hier steht der ehemalige Wasserturm, in den ein Luxushotel einziehen soll, wogegen sich bis heute der Protest der Schanzenbewohner regt.
Die Grenzen des Schanzenviertels sind nicht genau definiert - es liegt irgendwo zwischen Altonaer Straße, ehemaligem Schlachthof, Sternschanzenpark und Stresemannstraße. Herzstück ist das Schulterblatt mit der mediterranen Piazza. Die Straße hat ihren Namen von dem Ladenschild einer früheren Walfängerkneipe, das aus dem Schulterblatt eines Walfisches gemacht war.
Christin Hatting repräsentiert die neuen Schanzenbewohner. "Wer hier wohnt, kann sich dem Trubel nicht entziehen", sagt die blonde Frau. "Man muß sein Leben dem Rhythmus des Viertels anpassen." Da weder sie noch ihr Lebensgefährte morgens besonders früh aufstehen müssen und Tochter Svenja noch nicht zur Schule geht, stört sie der abendliche Lärm der Autos und der vielen Menschen vor ihrem Haus nicht. Da gab es Schlimmeres.
"In der ersten Zeit habe ich den Spielplatz noch nach weggeworfenen Spritzen abgesucht, bevor Svenja im Sand spielen durfte", erzählt Christin Hatting. Durch eine veränderte Drogenpolitik ist das Viertel, in dem noch vor einigen Jahren Junkies in Trauben vor der Drogenhilfe-Einrichtung FixStern standen, jedoch clean geworden.
Die Werbeagentur, in der Christin Hatting halbtags arbeitet, ist nur ein paar Schritte von ihrer Wohnung entfernt. Sie befindet sich in der alten Pianoforte-Fabrik am Schulterblatt, in der früher mit Dampfmaschinenantrieb Pianos und Orgeln gebaut wurden. Zehn Jahre Renovierungs- und Umbauarbeiten haben aus der alten Fabrik ein imposantes Industriedenkmal gemacht.
Svenja (3) geht vormittags in eine Kita. 16 Einrichtungen für Kinder gibt es im Quartier - mit ein Grund dafür, daß sich Familien mit Kindern wieder wohlfühlen im Schanzenviertel.
Die Schanze hat sich zu einem multikulturellen Mikrokosmos entwickelt. Christin Hatting liebt diese Atmosphäre. "Andere Kinder essen Fleisch mit Gemüse, Svenja wächst mit Falafel und chinesischem Essen auf", scherzt sie. "Kaffee kaufe ich beim Italiener, Törtchen beim Portugiesen und Gemüse beim Türken an der Ecke." Dazu kommt eine breite Auswahl an Szene-Boutiquen, asiatischen Krimskrams-Geschäften und hippen Musikläden.
Manche der alteingesessenen Schanzenbewohner stehen der Entwicklung des Viertels kritisch gegenüber. "Heute herrschen Spaß und Kurzweil vor. Früher hatte das Leben hier mehr Substanz", sagt Thorsten Brink (34). Vor 15 Jahren zog er an die Schanzenstraße. Mit seinem Musiklabel Hiddentape bringt er CDs heraus, die ausschließlich von Musikern aus dem Schanzenviertel stammen.
"Zwischen uns Nachbarn herrscht ein toller Zusammenhalt", sagt der Fan exotischer Volksmusik. "Das könnte sich aber ändern, wenn immer mehr Neue hinzuziehen." Andererseits schweiße der Besucherstrom, der allabendlich über das Viertel einfalle, die Schanzianer eher noch enger zusammen. "Ich genieße den Trubel, solange ich die Möglichkeit habe, mich abseits zu halten", sagt Thorsten Brink gleichmütig. "Es wäre aber schade, wenn sich die Schanze zu einem reinen Amüsierviertel entwickelt." Der allabendliche Trubel und der damit verbundene Lärm hat schon so manchen Anwohner aus dem Viertel vertrieben. Und nicht nur Thorsten Brink befürchtet eine "Yuppiesierung" des Viertels. Die immer aufwendiger sanierten Häuser führen zu stark ansteigenden Mieten.
Die schönen Altbauten in der Schanze sind mit ein Grund, warum das Viertel so im Trend liegt. Hier hat sich in den letzten Jahren eine spektakuläre Wandlung vollzogen. Bis in die neunziger Jahre lieferten sich Autonome Straßenschlachten mit der Polizei. Regelmäßig brannten hier nachts die Barrikaden. Dann nahmen Drogensüchtige und Dealer die Schanze in Beschlag. Familien mit Kindern zogen weg, das Viertel drohte zu kippen. Gerade noch rechtzeitig zog die Stadt die Notbremse. 1999 übernahm die Stadtentwicklungsgesellschaft Steg das Quartiersmanagement. Jetzt gab es Gebietsbetreuer, vereinfachte Kredite für Unternehmensgründer und Fördergeld für Bausanierung und Hinterhofbegrünung.
Das Konzept ging auf. Vor allem bei jungen Leuten ist das Viertel heute gefragt. Es wird in vielen Reiseführern erwähnt, und Veranstalter von Stadtrundfahrten lassen ihre Busse durch die engen Straßen fahren. An die alten Zeiten erinnert noch das Gemäuer der Roten Flora - die immer noch Treffpunkt für Autonome, Punks und Unangepaßte ist. Wenn die dann mal wieder mit höllischem Gitarrenlärm gegen die Spaßgesellschaft protestieren, denkt Christin Hatting: "Das gibt's nur auf der Schanze."