Freudenberg. Im Gottesdienst wird der 12-Jährigen gedacht, die von zwei Mädchen getötet wurde. Bürgermeisterin warnt vor „Hetze und aggressivem Besserwissen“.
Der Ort des Gedenkens liegt im Rückraum dieser kleinen Kirche aus dem 17. Jahrhundert. Ein aufgeschlagenes Kondolenzbuch, ein Schild, das an die getötete Zwölfjährige erinnert, dazu vier Kerzen, deren Schein an diesem regnerischen Sonntagmorgen schwach vor den weißen Wänden der über 400 Jahre alten Evangelischen Kirche in Freudenberg flackert.
Etwa 150 Menschen sind gekommen, um eine Woche nach dem verstörenden Verbrechen, das das ganze Land sprachlos zurückgelassen hat, im Rahmen eines regulären Gottesdienstes Anteil zu nehmen, Halt zu suchen. Kinder bringen ein Kind um. Dieser Horrornachricht wollen sie sich stellen, sofern möglich, und „uns von Gottes Wort aus unserer Sprachlosigkeit herausbringen lassen“. So formuliert es der Siegener Superintendent Peter-Thomas Stuberg ganz vorne in der Kirche, vor Altar und Orgel.
Der leitende Theologe des Evangelischen Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein hat mehr als zwei Tage an seiner Predigt gearbeitet und versucht nun, Worte für das Unaussprechliche zu finden, Trost zu spenden. Es bleibt bei einem Versuch, anders geht es in diesem außergewöhnlichen Fall vermutlich gar nicht.
Superintendent spendet Trost und wirbt um Zurückhaltung
Stubergs Kollegin, die Freudenberger Pfarrerin Angelika Mayer-Ullmann, schließt in ihre Fürbitte die getötete Zwölfjährige und deren Angehörige sowie Freunde ein, ebenso Rettungskräfte, Polizisten, Seelsorger, Lehrer oder Mitschüler, auch die Familien der mutmaßlichen Täterinnen. Für jede Gruppe wird in eine Vase auf dem Altar je eine weiße Rose gesteckt. Als dann das Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ verklingt, herrscht ein Moment der Stille in der kleinen Kirche. Die Gottesdienstbesucher blicken auf ihren grünen Bänken zu Boden, versunken in ihre Gedanken.
„Schweigend und innehaltend“ finde man sich gemeinsam im Haus Gottes ein, in „gemeinsamem Aufgewühltsein und geteilter Fassungslosigkeit“, sagt Stuberg später. Auch für ihn bleibt das, was eine Woche zuvor in einem etwa drei Kilometer entfernten Waldstück im Freudenberger Ortsteil Hohenhain passiert sein muss, „unerklärlich und unfassbar“. Ein Kind ist tot, gerade einmal zwölfjährig. „Das allein“, sagt Stuberg, „ist schon schwer zu begreifen. Schwerer noch wiegt es, dass zwei Gleichaltrige sie töteten. Selbst auch noch Kinder.“
In seiner gut 20-minütigen Predigt macht Stuberg keinen Hehl daraus, dass sich mancher die Frage stellen werde, wieso Gott eine solche Tragödie zugelassen habe? Trotzdem versucht der Superintendent, Kraft aus den Worten der Bibel zu schöpfen, auch wenn es Zeit brauche, um Trost bei und durch Gott zu finden.
Daneben wirbt Stuberg aber auch angesichts des enormen öffentlichen Interesses an dem Fall um Zurückhaltung. Die bohrende Frage nach dem Motiv für diese furchtbare Tat zweier Mädchen an einer Gleichaltrigen bleibt weiter unbeantwortet. „Zu Recht“, wie der Theologe in dem online übertragenen Gottesdienst bemerkt, denn bei den mutmaßlichen Täterinnen handele es sich um Minderjährige.
Mit dieser nachvollziehbaren Haltung ist er nicht allein, und doch machen die wenigen Informationen zum Motiv es so schwierig, dieses außergewöhnliche Verbrechen zu begreifen.
Auf Freudenberg lastet eine „tonnenschwere Last“
Am Tag des Gottesdienstes, auf den am Mittwoch die offizielle Trauerfeier folgt, liegt die Meldung über den Tod der Zwölfjährigen nun genau eine Woche zurück. Vor allem die Angehörigen des Opfers müssen unfassbares Leid ertragen, sie „zu stützen und zu unterstützen“ mahnt auch Freudenbergs Bürgermeisterin Nicole Reschke an, die wie Landrat Andreas Müller (SPD) an dem Gottesdienst teilnimmt. Auch um den Schutz der Familien der mutmaßlichen und strafunmündigen Täterinnen geht es, welche die Stadt verlassen haben. Daneben muss aber auch ganz Freudenberg das unvorstellbare Verbrechen verarbeiten. Denn „Trauer und Fassungslosigkeit“, sagt Reschke, „liegen wie eine tonnenschwere Last auf unserer Stadt“.
Die SPD-Politikern spricht über die Gerüchte und Spekulationen rund um diese Tat, sie appelliert an die Gemeinschaft und den Zusammenhalt, daran, miteinander statt übereinander zu reden. Sie warnt vor „Hetze und aggressivem Besserwissen“, später ist die Rede von „Hass und Hetze, gestreut von außen“. Nur: Dieses Verbrechen wurde von zwei zwölf- und 13-jährigen Kindern aus der Mitte ihrer bislang beschaulichen Kleinstadt begangen. Auch das ist es ja, was Freudenberg mit seinen offiziell 5325 Einwohnern im Stadtkern oder die 436 Einwohner von Hohenhain so beschäftigt. Jeder kennt jeden, jeder hat was gehört, jeder ist erschüttert. Die schreckliche Tat ist das Gesprächsthema beim Einkaufen, im Restaurant, beim Sport.
Das Motiv? „Wir müssen aushalten, dass wir nicht jedes Detail kennen“
Die Tat jedoch zu verstehen, sie zu verarbeiten wird für die Öffentlichkeit wahrscheinlich nie restlos möglich sein. Aufgrund der Strafunmündigkeit der mutmaßlichen Täterinnen findet keine juristische Aufarbeitung im Rahmen eines Prozess statt, zudem halten sich die Ermittler mit Auskünften zum Motiv mit dem Verweis auf den Schutz der jugendlichen Tatverdächtigen bedeckt. Die Ungewissheit lässt jedoch die Spekulationen nicht weniger werden, vor allem aber dürfte sie die gesellschaftliche Aufarbeitung in Freudenberg erschweren.
„Wir müssen aushalten, dass wir nicht jedes Detail kennen“, sagt Nicole Reschke. Auch die Bürgermeisterin verweist auf die rechtliche Situation, den Schutz der betroffenen Familien und betont: „Ich bin keine, die jetzt fordert, dass Polizei und Staatsanwaltschaft mehr Informationen liefern.“
Bürgermeisterin betont den Zusammenhalt in der Stadt
Reschke versucht an diesem Sonntagvormittag aber auch einer Stadt, deren Weltbild ins Wanken geraten ist, die nach Beobachtung von Superintendent Stuberg „wie gelähmt zu sein scheint“, Mut zu machen. Die Bürgermeisterin zeigt sich trotz all der widrigen Umstände überzeugt, dass ihr Freudenberg diese „gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die schwer wiegt“, bewältigt. „Gemeinsam werden wir uns dem stellen, vereint in der Trauer um Luise und in dem Wissen, dass unser starkes Band uns durch die Zeit des Schmerzes und der Zweifel tragen wird“, sagt sie.
Sie weiß aber auch: „Die Bewältigung braucht noch viel, viel mehr Zeit, gerade in den Ortschaften in unserer Stadt, die die Familien kennen, die nahe dran sind, auch in der Schule.“
Der Gottesdienst vom Sonntag ist da nur ein erster, kleiner Schritt.