Nach der brutalen Tat von Freudenberg: Über die Strafmündigkeit zu diskutieren ist legitim. Aber es gibt dringlichere Aufgaben. Ein Kommentar.

Es ist nicht populistisch, darüber zu diskutieren, ob die Grenze von 14 Jahren für die Strafmündigkeit tatsächlich angemessen ist. Zu verstörend, zu unfassbar ist die Gewalttat von Freudenberg, bei der zwei 12 und 13 Jahre alte Mädchen eine Zwölfjährige mit zahlreichen Messerstichen getötet haben sollen.

Die Frage steht im Raum, ob es tatsächlich richtig ist, dass in diesem Alter das Strafrecht überhaupt nicht greifen darf. Auch nicht das Jugendstrafrecht, das in Deutschland für 14- bis 18-Jährige gilt, bei Reifeverzögerung sogar bis 21 Jahre. Und bei dem nicht die Strafe im Vordergrund steht, sondern der Erziehungsgedanke, das Ziel, jungen Menschen die Chance zu geben, ein normales Erwachsenenleben zu führen, auch wenn sie jung straffällig geworden sind.

Es geht bei einer vernünftigen Debatte also nicht gleich darum, dass straffällig gewordene Jugendliche unter 14 Jahren drakonisch bestraft werden sollen. Allerdings: Eine solche legitime Debatte darf nicht aus dem Bauch geführt werden. Hier ist die Expertise von Fachleuten, etwa von Kinderpsychologen- und -psychotherapeuten, unerlässlich. Sie müssen all die, die diskutieren und letztlich auch entscheiden, mit in die Welt kindlicher Gedanken und Verhaltensweisen nehmen. Und dieser Experten-Rat wiegt tausendmal mehr als das Bauchgefühl oder der Reflex, dass eine grausame Tat wie in Freudenberg doch nicht ohne Folgen bleiben dürfe.

Wir wissen zu wenig

Zumal wir in diesem Fall viel zu wenig wissen, um überhaupt Schlussfolgerungen ziehen zu können. Noch nicht einmal die Ermittler kennen die wirkliche Motivlage. NRW-Innenminister Herbert Reul hat Recht, wenn er mahnt, dass man sich die konkreten Umstände dieses ganz speziellen Falles erst anschauen müsse, bevor man Maßnahmen auch in Sachen Strafmündigkeit ergreifen könne. Und das wird – wenn die Ermittler überhaupt etwas nach außen dringen lassen werden – wohl noch lange Zeit dauern.

Bis dahin gibt es viele andere Aufgaben, die es nach der schrecklichen Tat von Freudenberg anzupacken gilt. Da sind die vielen verstörenden und teils unfassbaren Reaktionen in der Internet-Welt. Hier wird teils Hass gepredigt, schrecklicher Unsinn und Falschinformation verbreitet, auf Persönlichkeitsrechte gepfiffen. Es ist gut, dass die Behörden eingegriffen und die Profile der Tatverdächtigen in sozialen Netzwerken haben löschen lassen. Es ist gut, dass die Polizei ein Auge auf die Netz-Aktivitäten hat, auch mögliche strafrechtliche Konsequenzen androht. Aber es wird letztlich das Problem nicht beseitigen. Wie lange wollen wir es noch zulassen, dass hier in Teilen ein rechts- und vor allen Dingen moralfreier Raum entstanden ist?

Pure Spekulationen

Ja, auch die Arbeit der Medien ist zu hinterfragen. Es ist nicht verwerflich, dass die Bevölkerung ein hohes Informationsbedürfnis hat. Es ist auch richtig, dass Medien sich nicht nur mit dem zufrieden geben, was Ermittler bei Pressekonferenzen sagen. Journalistinnen und Journalisten müssen sich ein möglichst umfassendes Bild machen, um diese Tat einschätzen und bewerten zu können. Es ist auch richtig, die Stimmung in der Bevölkerung einzufangen. Aber es ist falsch, dass sich einige Medien in puren Spekulationen ergeben, Informationen vom Hörensagen weiterverbreiten. Dass sie die schutzwürdigen Interessen der Opferfamilie und auch der Tatverdächtigen und deren Angehörigen verletzen, indem sie Details preisgeben, die dem puren Voyeurismus dienen. Und es ist falsch, dass sie in Freudenberg den Menschen zu nahe kommen.

Die allerwichtigste Aufgabe ist aber, der Familie der Getöteten, den Verwandten, den Freundinnen und Freunden gerecht zu werden. Ihr Schicksal, ihr Leid, ihre Sicht auf die furchtbare Tat und die Folgen – all dies kommt zwangsläufig in der Berichterstattung zu kurz, wenn man die Privatsphäre der Betroffenen schützen will. Unsere Aufgabe als Gesellschaft – ob vor Ort in Freudenberg oder auch in der weiten medialen Welt – ist, sie in Ruhe zu lassen, sie zu schützen, ihnen aber auch die Möglichkeit zu bieten, dann wieder in die Gesellschaft, in die Öffentlichkeit, in den Alltag zurückzukehren, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Wann das ist und wie das geschieht, das können allein die direkt Betroffenen entscheiden.