Siegen. Für Ehrenamtliche und Gäste ist der Umsonstladen in Siegen wie eine Familie. Zum Monatsende soll Schluss sein. Aber noch gibt es eine Chance.
Ulrike Neuburger, die alle Ulli nennen, kommen immer wieder die Tränen. Die 75-Jährige war lange bei der Polizei, sie sagt oft, wo’s langgeht, aber wenn sie daran denkt, dass Ende des Monats alles vorbei sein soll, kämpft sie gegen das Schluchzen an.
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Der Umsonstladen kann nicht weiter im KulturIntegrationQuartier (KIQ) in der alten Hammerhütter Schule an der Koblenzer Straße bleiben, die Stadtverwaltung hat die Nutzungsvereinbarung nicht verlängert. Ein Schock für Ehrenamtliche und Gäste, für die der Laden viel mehr ist als ein Ort, wo Dinge des täglichen Bedarfs verschenkt werden.
Im Umsonstladen sind alle wie eine Familie, Ehrenamtliche und Gäste
Ulrike Neuburger ist von Anfang an dabei, „ich hänge wirklich mit Herzblut dran“, sagt sie. Jeden Mittwoch ist sie acht bis zehn Stunden vor Ort, abends erschöpft, aber glücklich. Wie eine Familie sind sie hier, erzählt sie, ganz verschiedene Menschen, aus zig Nationen, allen Altersgruppen, Geschlechtsidentitäten. Viele Bedürftige, viele Familien mit Kindern kommen. Gerade ältere Menschen sind oft alleine, sagt Neuburger, hier haben sie eine Aufgabe. Finden Gemeinschaft; essen zusammen und feiern Geburtstage oder auch einfach mal so, trauern, wenn eine liebe Freundin stirbt, wie erst kürzlich Gisela, die andere gute Seele des Umsonstladens. Achmed, der aus Syrien geflohen ist, „passt auf mich auf“, erzählt Ulrike Neuburger, die drei Bandscheibenvorfälle hinter sich hat und nimmt den schmalen Mann mit den scheuen Augen in den Arm. Schon Mittwochabend freue sie sich auf die nächste Woche, sagt sie noch und verstummt, weil ihr wieder die Tränen kommen. „Ich kann das einfach nicht verstehen.“
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Der Umsonstladen ist trotz seines Namens kein Laden. Aktivist und Wissenschaftler Philip Engelbutzeder hat das Projekt ins Leben gerufen als neue Form gesellschaftlicher Teilhabe und ehrenamtlichen Engagements, erzählt er. Mit ganz normalen Leuten in einer ganz normalen Stadt. Wer kommt, macht mit, sagt Engelbutzeder, jeder so wie er kann und möchte, eine Anlaufstelle mitten in der Stadt zur Vernetzung, für Gemeinschaft, Gespräche. Dazu der Nachhaltigkeitsaspekt, der nicht nur für Bedürftige wichtig ist: Hier wird nichts weggeschmissen, hier werden Menschen gesucht, die den Dingen noch einen Wert beimessen, sie gebrauchen können. In Zeiten der Klimakrise, der Ressourcenknappheit, der sozioökonomischen Transformation eben eine ganz neue Form von Ehrenamt. Weitere Initiativen sind dazugekommen, zu Gemeinschaftsgärten, Kochabenden, Lebensmittelretten. Es gibt viele Überschneidungen, inhaltlich und personell.
In der Szene wird Siegen bundesweit wahrgenommen – auch für den Umsonstladen
In seinen zehn Jahren als Kreativaktivist sei der Umsonstladen das erste Nachhaltigkeits-Projekt, das dauerhaft erfolgreich sei, sagt Philip Engelbutzeder. Geflüchtete, Studierende, Senioren, Arbeiterinnen kommen hier zusammen, auch von den anderen Gruppen und Initiativen, die das KIQ nutzen, die Grenzen sind fließend. Man kennt sich, hilft sich, arbeitet zusammen. Wer vorbeikommt, gehört dazu.
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In Sachen Nachhaltigkeit engagieren sich meist Leute, die Bescheid wissen, sagt Engelbutzeder. „Aber wie erreichen wir die breite Gesellschaft?“ Im Umsonstladen sei das ein elementares Thema, weil es den Alltag aller Menschen berührt, die hierher kommen. Jeden Mittwoch sind Dutzende vor Ort, zum Helfen oder als Gäste, wobei man das eben nicht so genau trennen kann. Um die 50 Personen umfasse das weiter wachsende Helfer-Netzwerk, das Engagement werde wissenschaftlich begleitet, erst kürzlich seien zwei Masterarbeiten entstanden. „Die Leute binden sich nicht mehr fest, sie wollen freier mitmachen“, sagt der Forscher. Hier werde das erprobt und untersucht – Erkenntnisse, die für jeden Verein potenziell interessant sein können. Siegen werde auch dafür inzwischen bundesweit wahrgenommen.
Der Umsonstladen Siegen beharrt nicht auf seinem derzeitigen Konzept
Philip Engelbutzeder und die anderen bedauern die Kündigung. Alle Räume können gemeinschaftlich genutzt werden, betonen sie, man wolle nichts blockieren, wolle auf jeden Fall besprechen, wie man sich arrangieren kann, dass für alle Platz ist im KIQ. Engelbutzeder sagt: „Es wäre doch toll, wenn die anderen Organisationen einen Schlüssel zu unserem Raum haben und sich alles nehmen können, was sie wollen und brauchen.“ Genau dafür sind die Sachen da. Dort erinnert ein Foto an die verstorbene Gisela, Irina und Jutta bügeln gerade Kleider und Bettwäsche auf. Seit 4 Uhr morgens hat sie im Supermarkt gearbeitet, sagt Jutta, danach kam sie direkt her und wird bis abends bleiben.
Leider habe es keine Kommunikation, keine Gespräche gegeben, sagt Engelbutzeder, nur die Information, dass man rausmüsse. „Wir haben keine Alternative. Hier wird Ehrenamt kaputt gemacht.“ Trotzdem wollen sie Optimismus und Zuversicht nicht aufgeben. Der Umsonstladen musste schonmal umziehen, irgendwie wird es auch dieses Mal weiter gehen, hoffentlich. Auch wenn sich Ulrike Neuburger gerade nicht vorstellen kann, wie. Wenn sie die Tränen niedergekämpft hat, kann sie auch schnell wieder lachen. Trotzdem fasst Philip Engelbutzeder das ziemlich an. „Dass eine 75-Jährige anfängt zu weinen – das brauche ich nicht.“
Funktionierende Ressourcenumverteilung in Siegen in Krisenzeiten nicht stoppen
Und gerade in diesen Zeiten, in denen die Tafel bei ihnen anfrage, ob man nicht mehr Lebensmittel für Bedürftige bereitstellen könne, eine „sehr gut funktionierende Ressourcenumverteilung zu stoppen“, sei für ihn und die anderen nicht nur frustrierend und unverständlich, sondern auch einfach nicht sinnvoll. „Für das, was die Menschen hier bekommen und woanders sparen, können sie sich in diesen Zeiten einiges Obst und Gemüse kaufen“, sagt Ulrike Neuburger, die selbst genau auf Angebote im Supermarkt achtet. Schon durch die Ankündigung der Schließung sei das Spendenaufkommen zurückgegangen. „Wir könnten so gut weiter Gutes tun. Ich weiß nicht, was ich mittwochs dann machen soll.“ Die anderen fehlten ihr jetzt schon, die Gespräche, zu wissen, dass sie anderen helfen kann. Die Freude, wenn jemand einen blauen Pullover sucht und sie genau so einen Pullover findet.
„Wir tun viel und fordern nie Geld“, sagt Philip Engelbutzeder. Sie bräuchten einfach nur einen Raum, der für alle gut erreichbar ist.
Dezernent: Der Umsonstladen passt ins KIQ, aber die Stadt Siegen braucht den Raum
Grundsätzlich, sagt der zuständige Dezernent Andree Schmidt, passe der Umsonstladen natürlich gut ins KIQ und dem Ansinnen, einer bunten Stadtgesellschaft Raum zu geben und unterschiedlichste Gruppen zusammenzubringen. Problematisch aus Sicht der Stadt sei aber eben, dass für nur einen Öffnungstag pro Woche einer der beiden großen Räume im Erdgeschoss „blockiert“ werde, nicht von anderen Gruppen genutzt werden könne. Verändere der Umsonstladen sein Konzept entsprechend, werde man sich Gesprächen natürlich nicht verschließen, betont Schmidt – entsprechende Anfragen hätten ihn aber nicht erreicht. „In seinem jetzigen Konstrukt passt der Umsonstladen nicht zum Konzept eines offenen Hauses für alle, ohne feste Raumbelegung“, so Schmidt.
Deutlich über 20 Gruppen und Migrantenselbsthilfeorganisationen (MSO) ohne eigene Räume nutzten das KIQ aktuell regelmäßig. Auch aufgrund der aktuellen Fluchtbewegungen aus der Ukraine werde nun dringend Platz für geschützte Mutter-Kind-Angebote benötigt, das „Café Mayla“ wird im anderen großen Erdgeschossraum derzeit hergerichtet – der dann etwa für Tanz oder Theater nicht mehr zur Verfügung stehe. „Wir müssen schon jonglieren, um mit den Räumen klarzukommen“, betont der Dezernent. Dass die Nutzungsvereinbarung zum 30. Juni aufgehoben wurde, sei eine Zielmarke, „keine harte Frist“, so Schmidt und versichert, dass auch hier Gesprächsbereitschaft seitens der Verwaltung bestehe.
Die Siegener Kommunalpolitik steht hinter dem Umsonstladen
Er fände es persönlich schade, wenn der Umsonstladen keine dauerhafte Nutzungsperspektive im KIQ habe, sagt CDU-Fraktionsvorsitzender Marc Klein, der erst kürzlich zusammen mit dem Landtagsabgeordneten und stellvertretenden Bürgermeister Jens Kamieth vor Ort war. Er sei beeindruckt vom Engagement der Ehrenamtlichen und was hier auf die Beine gestellt wurde, habe gleichwohl Verständnis für die Position der Verwaltung, den von Anfang an provisorischen Charakter im KIQ. „Ich würde mich freuen, wenn wir eine Lösung für eine dauerhafte Bleibe finden könnten“, sagt Klein – auch im Sinne der Menschen, die nicht nur von den hier geteilten Dingen profitieren. „Der Umsonstladen ist eine wichtige soziale Anlaufstelle“, so der Fraktionschef. „Dieses super Projekt werden wir gerne unterstützen.“
Auch Michael Groß, Vorsitzender der Grünen-Ratsfraktion, sieht im Umsonstladen eine Einrichtung, die es unbedingt zu erhalten gelte, auch und gerade im Sinne der Stadt. „Siegen hat eine positive Ehrenamtskultur – und wenn das Ehrenamt Unterstützung braucht, sollte die auch gewährt werden.“ Was hier und andernorts geleistet werde, könne mit Geld überhaupt nicht bezahlt werden. Die derzeit bekannten Gründe rechtfertigten für ihn die Kündigung nicht. Zu einer solchen könne es natürlich kommen, „aber dann muss man doch auch helfen, eine Perspektive zu bekommen“, meint Groß und kündigt an, politisch die Initiative zu ergreifen.
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Auch für Volt ist die Kündigung nicht nachvollziehbar. Der Umsonstladen ergänze und vernetze das „Gesamtpaket“ des KIQ sehr, gut, so Fraktionsgeschäftsführer Jacob Kamann. „Wir hoffen, dass Gespräche zustande kommen.“