Siegen. Zwischen Kunst und Kapitalismuskritik, Abgeben und Stöbern im Umsonstladen Siegen: Wann hat Gebrauchtes einen Wert?

Fast könnte man enttäuscht den Heimweg antreten. „Zutritt nur für Künstler“ steht auf einem Schild im Eingangsbereich des an der Koblenzer Straße entstehenden „Umsonstladens“. Doch das Schild hat eine Fußnote: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Das sozial motivierte Projekt schließt niemanden aus. Ohne einen Cent in der Tasche kann jeder Dinge vorbeibringen und abholen: Regenschirme, DVDs, Grußkarten: Es scheint, als gebe es hier nichts, was es nichts gibt. „Es ist alles kostenlos“, sagt Philip Engelbutzeder, der das Projekt ins Leben rief. Ob es aber auch umsonst ist – das müsse sich jeder selbst fragen. Und alle gemeinsam.

Umsonstladen Siegen: Das Konzept beruht auf Josef Beuys

Zu Ehren von Josef Beuys habe er den Umsonstladen „als soziale Plastik“ initiiert, erzählt der studierte Pluralökonom. Er sei beides: „Wissenschaftler und Künstler.“ Als Wissenschaftler würde er nie vorschlagen, dass alles umsonst sein sollte. „Das wäre kein nachhaltiges Konzept, das wäre sinnlos.“ So ähnlich verhalte es sich mit kapitalistischen Strukturen. Auch die machten oft keinen Sinn für die Menschen – da ginge es nur ums Aufrechnen: „Fünf Bananen sind so viel wert wie 20 Äpfel. Es geht gar nicht darum, ob man die alle wirklich essen kann – kein bedürfnisorientierter Tausch.“

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Anders im Umsonstladen. Hier heißt es: „Einfach reinkommen, etwas abholen oder mitbringen. Wir bedanken uns – und erwähnen, dass es ein Kunstbeitrag ist.“ Skurrile Gegenstände seien schon dabei gewesen: „Zum Beispiel eine Erdmännchenfigur, die eine Lampe hält.“ Viel „Krims-Krams“, aber auch ganze Haushaltsauflösungen. Die Keller und Dachböden der Menschen seien voll mit Sachen, die unbenutzt herumstehen. Ohne Wert für irgendjemanden.

Philip Engelbutzeder hat den Umsonstladen ins Leben gerufen. Im Hinterhof gibt es ein Hochbeet für Gemüse frei zur Verteilung.   
Philip Engelbutzeder hat den Umsonstladen ins Leben gerufen. Im Hinterhof gibt es ein Hochbeet für Gemüse frei zur Verteilung.    © Gesa Born

Mit dem „Ist etwa alles umsonst-Laden“ – so heißt er in voller Länge – will Philip Engelbutzeder auch irritieren: „Was sind die Dinge wert?“, fragten sich viele beim Durchstöbern des Angebots. „Fünf oder acht Euro, mehr oder weniger?“ Genau hier beginne der „soziale Aushandlungsprozess“, der ihm wichtig sei, „das Nachdenken über den eigentlichen Wert der Dinge für einen selber.“ Die Gesellschaft müsse lernen, sich wieder an ihren Bedürfnissen zu orientieren. Die Herausforderung: „Diese überhaupt erst wieder wahrzunehmen.“

Umsonstladen Siegen: Die Vorgeschichte

In einem Innenhof an der Sandstraße, über dem Fahrradreparatur-Treff von „Alter Aktiv“, fing alles mit einer Bettlakenaktion an: „Die haben wir hier aufgehängt, da konnten Leute draufschreiben, was sie sich wünschen, was sie brauchen oder was für Fähigkeiten sie anbieten können“, erzählt Engelbutzeder. Nebenan wurden ein Foodsharing und ein Reparatur-Café eingerichtet.

Aus Brandschutzgründen ist das Projekt nun an die Koblenzer Straße umgezogen – wo es im Kulturintegrationsquartier (KIQ) in der früheren Hammerhütter Schule Unterschlupf finden konnte. In der ehemaligen Grundschule finden seit Jahren bereits Aktivitäten statt wie gemeinsames Kochen („Siegen isst bunt“), in die die Ehrenamtlichen um Philip Engelbutzeder involviert sind. Auch Kompost und Hochbeete für Gemüse – zur freien Bedienung für alle – gibt es im Hinterhof. „Kürzlich haben wir 1000 Pflanzen von einer Gärtnerei gerettet und verteilt, die wären sonst weggeschmissen worden“, erzählt Engelbutzeder.

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Bevor aber endgültig feststeht, dass der Umsonstladen hier bleiben darf, müssten noch einige Formalien geprüft werden, heißt es von Seiten der Stadt.

Siegen: Ehrenamtliche arbeiten im Umsonstladen zusammen

Derweil spricht sich der Umsonstladen herum, viele bieten ihre Hilfe an. Einer von ihnen: Spartacus Benjamine, der vor zwei Jahren aus Nigeria nach Deutschland kam. Während er sich bei Siegener Firmen bewarb und viele Absagen bekam, packte er im Umsonstladen mit an – der sich zu dem Zeitpunkt noch an der Sandstraße befand. Sämtliche Regale baute er auf.

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„Ob bezahlt oder nicht bezahlt: Ich bin ein junger Mann, ich will arbeiten“, sagt er. Hier lernte er Deutsch und andere Leute kennen. Mittlerweile hat er eine Job-Zusage – hält aber den Kontakt zu den Leuten im Umsonstladen-Projekt, „zum Beispiel zu Ulrike“. Jahrelang hatte die sich bereits ehrenamtlich engagiert, im Altenheim und beim Foodsharing. „Dann bin ich hier gelandet und es macht so viel Spaß!“, sagt sie.

Umsonstladen Siegen ist Teil eines Netzwerks

Dabei ist der Umsonstladen wiederum Teil eines größeren Netzwerks: Um in eine noch festere „Infrastruktur“ für neues Wirtschaften zu schaffen, finden in Siegen bereits seit Februar vergangenen Jahres regelmäßige Treffen statt – im „Reallabor für ökonomische, ökologische und soziale Überlebensfähigkeit“, kurz „ReSi’s MitWelt“. Mit dabei: Hochschullehrkräfte verschiedener Disziplinen, die Siegerländer Frauenhilfe mit ihrem Kleiderladen, die fünf Sozialkaufhäuser des Heimatvereins Achenbach mit dazugehörigen Gemeinschaftsgärten, das Kulturintegrationscafé, das Fahrrad-Reparatur-Café und eben der Umsonstladen.

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„Unser Ziel ist es, ein Ressourcen-Zentrum aufzubauen, so 2000 Quadratmeter“, erzählt Philip Engelbutzeder. Auch Informations-Technologien sollen in Zukunft beim Netzwerken helfen: „Jemand schreibt übers Handy ‘Ich brauch’ einen Kinderwagen’“, skizziert er einen möglichen Ablauf: Eine Vernetzung zwischen den Initiativen – die die Dinge entgegennehmen, reparieren, auseinanderbauen und wieder in Umlauf bringen. „Du musst den Toaster nicht mehr bei Amazon kaufen, sondern wir holen deinen kaputten ab und liefern ihn dir repariert zurück.“ Der Vorteil: Die Dinge blieben in der Region und die Kontakte zwischen den Menschen würden gefördert.

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