Achenbach. Was bringt Menschen zusammen, wie lassen sie sich aktivieren? Im Reallabor Achenbach sind Forschende der Universität Siegen ganz dicht dran.
Die Uni Siegen hätte kluge Köpfe schicken können, die den Menschen in Achenbach und am Heidenberg sagen, was laut Theorie gut für sie ist. Tatsächlich schickte die Uni aber kluge Köpfe, die gemeinsam mit den Menschen vor Ort herausfinden sollen, was diese brauchen, was sie möchten und was in diesem speziellen Stadtteil funktioniert. Seit etwas mehr als einem Jahr ist der Heimatverein Achenbach nun „Reallabor“ der Uni Siegen. „Wir gucken: Wie ist die Lebenslage? Und worauf haben die Leute Bock?“, erklärt Yannick Bollmann, seit 1. August Stadtteilkoordinator.
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Dass der studierte Sozialarbeiter es so klar ausdrückt, macht es entgegen aller gängigen Vorstellungen von akademischer Sprechweise nicht weniger wissenschaftlich. Eigentlich ist sogar das Gegenteil der Fall. Denn das Konzept des Reallabors sieht eine Abwendung von Elfenbeinturmmentalität und eine Hinwendung zu Lebensrealität vor, wobei die Wissenschaft unterstützend und begleitend genutzt wird. Es komme eben nicht jemand von außen und stülpt etwas über, wie Yannick Bollmann, zunächst ehrenamtlich dabei und nun fest angestellt bei der Weiterbildungsgesellschaft des Heimatvereins, betont. „Der Kerngedanke aller Projekte: Sie haben einen emanzipatorischen Charakter. Wir fragen uns: Wie können wir die Leute ermächtigen und solidarische Strukturen schaffen?“
Heimatverein Achenbach ist perfekt für das Reallabor der Uni Siegen geeignet
Achenbach bietet sich dafür an, weil der Heimatverein seit Langem schon ungemein rührig ist. Der Stadtteil hat eine hohe Quote an Menschen im Hartz IV-Bezug und laut Armutsbericht der Stadt Siegen ein hohes Armutsrisiko. Der Heimatverein hat Sozialkaufhäuser, ein Sozialrestaurant, es gibt einen so genannten Fairteiler für Lebensmittel, die sonst entsorgt würden. Es gibt Koch- und Begegnungsabende, Angebote für Senioren und Jugendliche, seit einiger Zeit einen Gemeinschaftsgarten. Alles steht allen Bürgerinnen und Bürgern offen. Ethnischer, kultureller, religiöser oder finanzieller Hintergrund, Bildungsgrad oder Alter spielen keine Rolle.
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Trotz aller Probleme, die die Pandemie mit sich bringt: „Sie hat hier auch viel zum Positiven verändert“, sagt Günther Langer, Geschäftsführer der Weiterbildungsgesellschaft des Heimatvereins. „Die Menschen sind zusammengerückt.“ Durch die gemeinsamen Projekte habe sich eine neue Kultur des Teilens und Miteinander-Agierens entwickelt.
Produzieren statt konsumieren
Die Projekte in Achenbach und am Heidenberg kombinieren Soziales ganz organisch mit Ökologischem und Nachhaltigem. „Produzieren statt konsumieren“, bringt es Philip Engelbutzeder auf den Punkt – und das Produzieren geschieht hier meist in der Gruppe.
Die Verteilung von sonst der Entsorgung überantworteten Lebensmitteln, der gemeinsame Anbau von Obst und Gemüse im Stadtteilgarten, Hilfestellung für den Anbau in eigenen Gärten, die Reparatur und anschließende Weitergabe von beispielsweise Elektrogeräten, anstatt diese bei einem Schaden gleich zu entsorgen: All das lässt Menschen miteinander interagieren und ist gleichzeitig gut für Umwelt- und Klimaschutz.
Die Uni Siegen geben Studierenden im Reallabor „die Chance, sich lokal einzubringen“, sagt Philip Engelbutzeder. Und über die Professorinnen und Professoren möchte die Uni auch „über ihre Expertise mithelfen“.
Das Konzept hat Zulauf. Seit Pandemiebeginn, sagt Günther Langer, habe der Heimatverein Achenbach mehr als 140 neue Mitglieder bekommen, darunter sehr viele junge Leute.
Dabei hätten einige auch Vorbehalte beispielsweise gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund abgebaut – einer von vielen positiven Effekten. Die Verteilung von Lebensmitteln, die Arbeit und der Aufenthalt im Gemeinschaftsgarten „sollen Katalysator für zwischenmenschliche Beziehungen sein“, erläutert Yannick Bollmann. Menschen finden zueinander, handeln gemeinsam, lernen sich kennen.
Reallabor Achenbach: Universität Siegen profitiert von Kooperation mit Heimatverein
Für die Uni ist das aus mehreren Gründen interessant. „Wir möchten die Begegnung von Universität und Zivilgesellschaft gelingen lassen“, sagt Philip Engelbutzeder, Doktorand der Sozio-Informatik und Initiator des Reallabors. Wie das gehe, könne das Team noch nicht abschließend sagen – aber das gilt es (unter anderem) ja im Reallabor herauszufinden. Die Uni kann Studierenden dabei die Möglichkeit bieten, in der Praxis zu arbeiten, zu forschen und zu lernen. Beispielsweise schrieb eine junge Frau ihre Masterarbeit über den Fairteiler – und darüber, welche Bedeutung digitale Medien dabei haben.
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Die Forschenden erfahren am realen Beispiel viel darüber, wie sich Strukturen aufbauen lassen, abgeleitet aus der Praxis. Was in der Achenbach und am Heidenberg funktioniert, muss allerdings nicht auch andernorts passend sein, wie Yannick Bollmann sagt. Es sollen also nicht überall etwa Gemeinschaftsgärten entstehen – jede Gemeinschaft darf selbst herausfinden, was für sie der richtige Weg ist: „Wir wollen Menschen befähigen, aktive Gestalter ihrer Umwelt zu sein.“
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