Siegen. Siegener Versorgungsbetriebe, Uni und Unternehmen gründen „Grün. Resilient. Regional“: Wie kann vor Ort Erneuerbare Energie produziert werden?

  • Projektnetzwerk bereitet Ausstieg aus fossiler und importierter Energie vor
  • Neben ökologischen Gründen steht dabei die Sicherung des Industriestandorts im Fokus
  • Photovoltaik, Windenergie und Recycling als Schlüsseltechnologien für Wasserstoffgewinnung

Die Zeitenwende trifft nicht nur Rüstung und Militär. Spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde Gewissheit: Das deutsche Wirtschaftsmodell kann so nicht weiterfunktionieren. Günstiges russisches Erdgas wird absehbar nicht den Energiebedarf der deutschen Wirtschaft decken. Bei der Energiewende geht es nicht nur um Ökologie, sondern auch um die Sicherung des Industriestandorts, sagt Prof. Volker Wulf, gerade in Südwestfalen.

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Der Prodekan der Universität Siegen, Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, ist Mitinitiator der Projekt- und Forschungspartnerschaft „Grün. Resilient. Regional“, an dem neben Hochschule und heimischen Unternehmen zentral die Siegener Versorgungsbetriebe (SVB) beteiligt sind. Ziel: Die Region vielleicht nicht energieautark, aber viel weniger abhängig von Energieimporten zu machen, dazu gezielt Ideen sammeln und erforschen, wie Erneuerbare Energie vor Ort produziert werden kann.

Energie: Knappheit und steigende Preise bedrohen die Siegerländer Schwerindustrie

Begonnen haben die Überlegungen nicht am 24. Februar, betont SVB-Geschäftsführer Thomas Mehrer – aber der Ukraine-Konflikt werde ja inzwischen auch über Waren- und Energieströme ausgetragen, weitere Dauer und Entwicklung nicht absehbar. Außer: mehr Knappheit, höhere Preise. „Wir sind in Deutschland extrem importabhängig“, sagt Mehrer – auch und gerade die Siegerländer Schwerindustrie. Dort sei man daher auch besonders nervös, „für unsere Region ist es besonders wichtig, Energie neu zu denken“, betont Mehrer – letzten Endes geht es auch um die Wettbewerbsfähigkeit einer Industrieregion und damit um ungezählte Arbeitsplätze.

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So gut wie alle Akteure sähen die Notwendigkeit hin zu mehr Erneuerbaren, so Thomas Mehrer, nun gelte es Netzwerke zu schmieden, parallele Interessen gebündelt zu bearbeiten. Angesichts der gewaltigen Herausforderung, die man vor Ort vielleicht nicht allein lösen, aber erheblich voranbringen könne, funktioniere der Umbau der Energiesysteme nur in Zusammenarbeit. SVB und Unternehmen, die Praktiker, müssen ihre Geschäftsmodelle anpassen. „Das Kerngeschäft der SVB, russisches Gas durch Siegener Leitungen zu Siegener Bürgern zu bringen, wird so künftig nicht mehr funktionieren“, sagt Wulf. Ähnlich geht es produzierenden Firmen. „Es gibt keine Alternative“, sagt Wulf – in dieser Lage kommt dazu die Uni, die per Gesetz selbst klimaneutral werden muss, und ihr Innovationspotenzial.

Photovoltaik und Windenergie sind in Siegen Schlüsseltechnologien für Energiewende

Neue Energie:Photovoltaik (PV) und Windenergie sind aus Sicht der Beteiligten zentrale Schlüsseltechnologien, deren Ausbau die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern erheblich mindert. Sie sind die Basis für die Produktion „grünen“ Wasserstoffs vor Ort – als eine Komponente, nicht als alleinige Lösung. „Der Bedarf an Wasserstoff wäre zu groß, um vollständig vor Ort produziert zu werden“, sagt Thomas Mehrer. Auch hier: Vernetzung; mit PV-Dach- und Freiflächenanlagen, mit möglichst vielen Partnern, Künstlicher Intelligenz, ein Reallabor für ein regionales Stromprodukt. „Wenn sich alle vernetzen, kann diese regionale Bewegung die Energiewende entscheidend vorantreiben“, so Volker Wulf – auch durch Wissen. Am Ende: Ein Baustein. Ein möglichst großer am besten.

Für eine unabhängige Energieversorgung muss auch die Bürokratie mitziehen

Umdenken: Er höre immer öfter „hätten wir doch mal...“, sagt Thomas Mehrer. Dass der Druck da, es 5 vor 12 ist, würden nun alle Beteiligten erkennen – aber es müsse auch etwas passieren. In der Vergangenheit sei die Energiewende immer schnell mit dem Wirtschaftlichkeitsargument abgetötet worden – nun sei das Land gezwungen, mit steigenden Preisen und Abhängigkeiten umzugehen. Dafür müssten aber auch alte Gewissheiten über Bord geworfen werden: „Es braucht neuen Konsens“, sagt Volker Wulf, über die Werte in der Gesellschaft, über die Diskussion von landschaftlicher Schönheit, in der auch mehr Windräder stehen sollen. Vielleicht auch näher an der nächsten Wohnbebauung: „Wenn wir um jedes Windrad, um jedes Dach kämpfen, hat das keine Zukunft.“

Das betrifft auch die Verwaltungen und ihre Regelwerke – viele Waldbesitzer, berichtet Mehrer, hätten Interesse, auf kahlen Schadholzflächen PV-Freiflächenanlagen zu errichten. Was nicht so ganz einfach ist in der deutschen Bürokratie. Die SVB, derzeit mit einer Photovoltaik-Freiflächenanlage in Gosenbach beschäftigt, denke durchaus in größeren Projekten: Je nach Verfügbarkeit der Flächen seien noch deutlich größere Anlagen machbar. Wenn man sie denn genehmigt.

Vor den Erneuerbaren: Ist die Infrastruktur in Siegen überhaupt geeignet?

Infrastruktur: Für neue Energieträger müssen die bestehende Infrastruktur ertüchtigt, die Systeme so umgebaut werden, dass sie Wasserstoff statt Erdgas beispielsweise verarbeiten können. „Dafür muss man sich alle Leitungen anschauen“, sagt Prof. Robert Brand, Siegener Lehrstuhl für Werkstoffsysteme für den Fahrzeugleichtbau. Die im Raum Köln/Bonn stammten von vor dem Zweiten Weltkrieg. Funktionieren etwa Druckminderer oder Ventile auch, wenn Wasserstoff hindurchströmt, statt Erdgas? Solche Forschungsfragen treiben die Ingenieurswissenschaften derzeit um, es gibt auch weitere Kooperationen des Netzwerks rund um Werkstoffe, etwa mit dem Forschungszentrum Jülich. Rohstoffe sind ebenfalls knapp, sagt Walter Schäfer, Bereichsleiter Industriekooperation an Prof. Wulfs Lehrstuhl – daher müsse es auch um Recycling und Umnutzung von Ressourcen gehen.

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Kommunikation: Energie wird dezentraler und lokaler werden, nicht mehr aus wenigen großen Kraftwerken fließen, die Bevölkerung vom Konsument zum Prosument, produziert selbst Energie. „Die Rolle des Bürgers als Selbsterzeuger muss organisiert werden“, so Thomas Mehrer – und dazu müsse man den Menschen Sorgen nehmen und Perspektiven aufzeigen, sie vernetzen, gegenseitige Unterstützung und Erfahrungsaustausch ermöglichen. Energie produzieren müsse leicht sein, die Investition in nachhaltige Energie sich lohnen, betont Volker Wulf. Nicht nur, weil man umweltfreundlicher und unabhängiger wird, sondern auch finanziell.

Regionale Energiewende braucht „riesige Investitionen“ – und darum Zusammenarbeit

Ein krisensicheres, importunabhängiges System ist das eine, sagt Volker Wulf – „im Winter frieren ist keine Frage des Preises mehr“ –, aber auch Erneuerbare Energie müsse sich ökonomisch rechnen. Zumindest für eine Übergangszeit werde es auch finanzielle Anreize brauchen, sagt auch Thomas Mehrer, sowohl vom Bund als auch vor Ort. So könnten die SVB für den Kunden einen Teil der Investition in eine PV-Anlage übernehmen und dafür Zugriff darauf erhalten, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.

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„Wir reden über riesige Investitionen“, sagt Thomas Mehrer, „kein Unternehmen und kein SVB kann das alleine stemmen.“ Und von heute auf morgen werde es auch nicht gehen – aber gemeinsam, informiert und unterstützt könne man in 10 bis 15 Jahren das Energieversorgungssystem umgebaut haben. Nachhaltig.