Hagen. Rita aus Hagen verlor ihre Tochter (14), weil diese ein Junge sein wollte. Wie es ist, wenn Liebe, Angst, Freiheit und Zweifel streiten

Es gibt dieses schöne Foto von den beiden Zwillingsschwestern. Die Mama wischt es auf dem Handydisplay herbei. Die beiden kleinen Mädchen sitzen am Tisch, haben sich im Arm, lächeln zwischen langen Haaren in die Kamera. Vor rund zehn Jahren ist das Motiv entstanden. Solche Fotos meint die Mama, wenn sie sagt: „Wenn ich alte Bilder sehe, dann kommen mir manchmal die Tränen. Ich kann nichts dagegen tun. Das überkommt mich einfach.“ Kurze Pause. Dann ein Satz, der schlimmer klingt, als sie ihn meint, aber so ist es nunmal. „Ich habe eine meiner Töchter verloren.“

Amtlich bestätigt: Aus der Tochter ist ein Sohn geworden

Das ist eben noch immer das, was sie in diesen kurzen Momenten fühlt. Wenn sie durch alte Fotos daran erinnert wird, dass Nicole jetzt Nico heißt. Dass aus ihrer Tochter ein Sohn geworden ist: kurze Haare, breite Jeans, dicker Pulli. 14 Jahre alt. „Ist doch ein echtes Upgrade“, sagt Nico. Die beiden lächeln sich an. Ein freies, fröhliches Lächeln. Der Weg bis dahin war lang.

Am 4. November ist die Sache mit Nico hoch offiziell geworden, vom Amt bestätigt: aus Nicole wird Nico. Das neue Selbstbestimmungsgesetz machte es möglich, das es erleichtert, den Geschlechtseintrag und den Namen ändern zu lassen. Für alle jene, die sich in ihrem Geschlecht nicht wohl fühlen. Nico und seine Mama Rita (43), die in Hagen wohnen und eigentlich anders heißen, aber aus Sorge vor unliebsamen Reaktionen lieber anonym bleiben wollen, hatten alle Unterlagen dabei. Sie waren beileibe nicht die einzigen.

„Das Schlimmste wäre, wenn er irgendwann zu mir käme und mir Vorwürfe macht. Wenn er mich fragt: Warum hast du das zugelassen?“

Rita (43)
Mama

Fast 100 Menschen haben allein in Hagen bisher einen Antrag auf Namens- und Geschlechtsänderung gestellt. Hunderte Anträge gab es schon vor Inkrafttreten des Gesetzes ab November in NRW-Großstädten wie Köln, Düsseldorf, Dortmund, aber auch in kleineren Städten wie Menden (14), Herdecke (12), Wetter (9), Brilon (5), Medebach, Marsberg, Winterberg (je 2). An der Geschichte von Nico und seiner Mutter ist zu erkennen, wie beschwerlich und voller Zweifel dieser Weg bis dahin sein kann. Für alle. 

„Ich hatte es irgendwie immer im Gefühl“, sagt die Mama heute. Sie habe, sagt sie, ihren Kindern immer mit auf den Weg gegeben, dass sie lieben könnten, wen sie wollten, dass sie sein könnten, wie sie wollten, dass das nichts an ihrer mütterlichen Zuneigung ändern werde. Sie frage sich, ob sie die Dinge damit vielleicht selbst ins Rollen gebracht haben könnte. Rita glaubt nicht, dass es so war. Aber wer weiß das schon. Gewissheiten sind rar.

Autos, raufen, Fußball statt Pink, Puppen und Glitzer

Nicole sei immer schon mehr Nico gewesen. Sie interessierte sich mit drei Jahren zuletzt für das, was Rita „Mädchenkram“ nennt. Sie setzt das Wort in Anführungszeichen. Für Pink, Puppen, Glitzer. Spannender fand sie: Autos, raufen, Fußball spielen. Rita erinnert sich, wie sie 2018 mit den Kindern am Ostseestrand war, wie sie ein Familienfoto machen wollte – und Nicole ein rosafarbenes Oberteil tragen sollte. „Wir haben deswegen richtig Stress gehabt, denn sie wollte nicht“, erinnert sich die 43-Jährige. Nicole trug das Textil am Ende doch. Ein ähnliches Bild hängt jetzt noch als eines der letzten aus der alten Zeit in der Küche an der Wand.

Nico sagt, es sei nicht schlimm, dass das Foto da noch hänge. „Ich fühle mich nicht schlecht, wenn ich es sehe.“ Sich als Mädchen. Das sei ein Teil von ihm, einer von früher eben. Einer, der fast schon weit weg ist. Nicos Stimme wird bald tiefer werden, irgendwann wird ihm ein Bart wachsen. Folgen der Therapie, der er sich im Hormonzentrum Dortmund unterzieht. Seit September bekommt er alle vier Wochen eine Spritze mit geschlechtsangleichenden Hormonen. Seit drei Jahren nimmt er alle zehn Wochen Pubertätsblocker, um die Ausprägungen eines weiblichen Körpers zu unterdrücken.

Entscheidende Frage: Kann das Kind diese Entscheidung selbst überblicken?

Die Hormontherapie ist unumkehrbar. Kinder- und Jugendpsychiater der Uni-Klinik Münster begleiteten deswegen den Weg dorthin und gaben ihr Einverständnis. Noch immer finden dort regelmäßig Gespräche statt. „Die Experten mussten eine Einschätzung treffen, ob Nico diese Entscheidung selbst fällen kann, ob das eine Art Laune ist, ob er versteht und begreift, was das heißt und welche Folgen das alles hat“, erklärt Rita.

Es muss dasselbe Jahr gewesen sein, 2018, wie die Sache mit dem Foto an der Ostsee, als Nicole das erste Mal eher beiläufig erwähnt, dass sie lieber ein Junge wäre. Aber sie war auch ein Schlitzohr, sagt Rita. Nicht immer musste man alles glauben, was sie so erzählte. „Ich habe das eher abgetan“, sagt die Hagenerin.

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Ein Jahr später will Nicole zum Frisör, die Haare abschneiden lassen. Die wachsen ja nach, denkt die Mama. Das schulterlange Haar kommt ab. „Ich weiß das noch, als wenn es gestern gewesen wäre“, sagt Rita und schildert, wie ihr Kind auf dem Stuhl beim Frisör sitzt und mit der Hand über das kurze Haar fährt. „Boah, Mama“, habe Nicole gesagt, „so fühlt sich Freiheit an.“ Noch immer fühle sich das so richtig und gut an. Wie könnte es dann ein Fehler sein?

Nicole ist zehn, als sie sagt, dass sie keine Brüste bekommen möchte, schon gar nicht die Periode, sie fragt ihre Mama, ob man als Frau Kinder kriegen muss. „Was willst du mir sagen“, habe sie ihre Tochter gefragt. „Dass ich ein Junge bin“, antwortet Nicole. Das Lächeln sei ihr im Gesicht erfroren. „Ich meine das voll ernst.“ 10. August 2020. Rita weiß das Datum noch auswendig. Wie ihre Reaktion gewesen sei? „Ich habe nur gesagt: Dann musst du dir überlegen, wie du heißen möchtest.“

Neues Gesetz

Den Geschlechtseintrag und den Vornamen ändern – das ist mit dem Selbstbestimmungsgesetz von nun an einfacher: Die Anpassung kann durch eine Erklärung gegenüber dem Standesamt vorgenommen werden, wie die Bundesregierung erklärt. Eine gerichtliche Entscheidung über die Antragstellung – wie nach dem bisher geltenden Transsexuellengesetz – ist nicht mehr erforderlich. Auch die Notwendigkeit, zwei Sachverständigengutachten einzuholen, entfalle.

Minderjährige bis 14 Jahre können die Erklärung über die Änderung des Geschlechtseintrags nicht selbst abgeben. Die Minderjährigen müssen aber bei der Erklärung im Standesamt anwesend sein. Minderjährige, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, können die Erklärung selbst mit Zustimmung der Sorgeberechtigten abgeben. In den Fällen, in denen die Sorgeberechtigten nicht zustimmen, kann das Familiengericht die Entscheidung der Eltern auf Antrag der minderjährigen Person ersetzen. Bei allen Minderjährigen muss die Erklärung auch die Versicherung enthalten, dass eine Beratung erfolgt ist.

Die Mama soll die Schwestern einweihen. „War klar“, habe die Zwillingsschwester gesagt. Und die große Schwester habe gemeint: „Ich wollte immer einen großen Bruder, aber ein kleiner ist auch toll.“

Die Sommerferien gehen zu Ende. Rita informiert vorab die Klassenlehrerin, dass Nicole das letzte Jahr auf der Grundschule möglicherweise als Nico absolvieren wird. „Alles klar, er muss es mir nur rechtzeitig sagen“, habe die Lehrerin geantwortet. Alle nennen ihn nur noch Nico - bis auf zwei Klassenkameraden, die ihn ärgern wollen. „Ich kann mich gar nicht mehr an die Namen erinnern“, sagt Nico. Vergessen, weil nicht schlimm. Oder verdrängt, weil kränkend.

In der Schule: Angst, die Freunde zu verlieren

„Die allermeisten Reaktionen waren positiv“, erinnert sich die Mama. Auch in der Familie. Auf der weiterführenden Schule habe es schnell Gerüchte gegeben, dass Nico früher mal ein Mädchen gewesen sein könnte. Er will, dass da nicht geraunt wird, dass alle Bescheid wissen. Rita, alleinerziehende Mutter, weiht die Eltern und somit auch deren Kinder mit einer Nachricht in der Whats-App-Gruppe ein. „Ich hatte Angst, dass ich meine Freunde verliere, dass das blöd wird“, erinnert sich Nico. Nichts davon geschieht. „Das war eine wahnsinnige Erleichterung“, sagt Rita.  

Eine Erleichterung, die noch immer anhält. Rita weiß noch, wie Nico es vor einem halben Jahr mit Blick auf die Hormontherapie mit der Angst zu tun bekam. Er wolle das alles doch nicht, habe er gesagt. Schließlich berge die Behandlung auch Risiken. „Das war wie ein Schlag ins Gesicht“, sagt die Mama. Sie besprechen alles nochmal, mit Ärzten, mit Therapeuten. Die Aussicht darauf, eine Frau zu werden, gefällt ihm weiterhin nicht. Nico will die Spritze dann doch.

Die Blicke der anderen Leute - und die diffuse Angst der Mama

Die Schule stellte schon vor der offiziellen Namensänderung einen Schülerausweis auf Nico aus, auf den Zeugnissen steht Nico. Nach dem Schwimmunterricht zieht er sich in einer gesonderten Umkleidekabine um. Beim Arzt sei er mal als Nicole aufgerufen worden. „Das ist eigentlich nicht so schlimm“, sagt die Mama, wenn die anderen Leute nicht wären. „Die Blicke der anderen Patienten, die sind unangenehm.“

Nicos Leben ist offenbar kein Minenfeld, was schön und erstaunlich zugleich ist. Aber die Fragen und Zweifel - sie werden weniger, sie werden jedoch vermutlich vorerst nicht ganz verstummen. Zweifel, die bei aller Sicherheit, das Richtige getan zu haben, vor allem die Mama plagen. „Das Schlimmste wäre, wenn er irgendwann zu mir käme und mir Vorwürfe macht. Wenn er mich fragt: Warum hast du das zugelassen?“ Sie glaubt nicht daran. Trotzdem: „Davor habe ich große Angst.“