Wilnsdorf/Hagen. Lkw-Chaosfahrt auf der A1: Spedition soll sich mehr für die Ware als für den Fahrer interessiert haben. Was ein Branchenkenner sagt.
Ein 30 Jahre alter Fernfahrer aus Polen hat vor mehr als einer Woche auf den Autobahnen 46 und 1 mit seinem Lkw eine Spur der Verwüstung hinterlassen. 57 Fahrzeuge wurden bei der 60 Kilometer währenden Unfallfahrt zwischen dem Rhein-Kreis Neuss und einem Baustellenbereich kurz vor der A1-Abfahrt Hagen-West gerammt. 23 Menschen wurden verletzt. Nach dem Geschehen, so die Polizei, habe sich die Spedition des Fahrers weniger für den Gesundheitszustand ihres Mitarbeiters interessiert als für die Ware auf dem Lkw. Rechtsanwalt Klemens Bruch aus Wilnsdorf hat nicht nur von Berufs wegen die Chaosfahrt sehr bewegt. Nach seinem Jurastudium steuerte er selbst fast ein Jahrzehnt lang Sattelzüge einer skandinavischen Spedition auf europäischen Autobahnen. Heute vertritt er als Anwalt in der Zweigstelle der „Autobahnkanzlei“ am Autohof Wilnsdorf Logistiker und Lkw-Fahrer. Was er über das Geschehen auf den Autobahnen 46 und 1 denkt.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von der Lkw-Chaosfahrt hörten?
Dass es zwar (noch) ein extremer Ausreißer ist. Aber dass es ein bezeichnendes Licht auf die Transport- und Logistikbranche wirft. Der einzelne Mensch zählt nichts. Mehr noch: Er wird in diesem System so zermürbt, dass einem psychisch labilen Menschen - wie womöglich der 30-Jährige in diesem Fall - irgendwann der Kragen platzt und er seinen Frust rauslässt. Und dann kann es offenbar dazu führen, dass einer seinen Lkw als Waffe benutzt.
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Was ist das System?
Vielleicht trifft es der Begriff „Geschäftsmodell“ noch besser: Die hiesigen Großlogistiker heuern Sub-Unternehmer an, die den Aufraggebern schriftlich bestätigen, sich an alle geltenden Bestimmungen zu halten. Doch das ist das Papier nicht wert, auf das es gedruckt wurde. Die Sub-Unternehmer arbeiten in einer rechtlichen Grauzone. Sie beschäftigen junge Lkw-Fahrer aus Osteuropa – darunter auch Fahranfänger –, setzen diesen mit Blick auf Lieferzeiten und Staulagen einen fast unmenschlichen Druck aus und zwingen ihre Angestellten, gesetzlich vorgeschriebene Lenk- und Ruhezeiten zu missachten. Den geltenden Mindestlohn bekommen die Fahrer natürlich auch nicht.
Müssen die Unternehmen nicht befürchten, dass solche Missstände bei Kontrollen auffallen?
Angesichts des großen Umfangs des Schwerlastverkehrs auf deutschen Straßen liegt die Zahl der Kontrollen seitens der Polizei, des Zolls und des Bundesamts für Logistik und Mobilität (BALM) im unteren einstelligen Prozentbereich. Unter anderem wegen nicht ausreichender personeller und technischer Ressourcen. Die Spediteure wissen genau, dass die Gefahr, in Deutschland erwischt zu werden, eher gering und damit wirtschaftlich kalkulierbar ist. Und wenn doch, dann gilt das Motto „geheuert und gefeuert“.
Sie sprachen von jungen Fahrern, die angeheuert werden.
Für die scheint der Job als Fernfahrer attraktiv zu sein, weil ihnen die Aussicht suggeriert wird, dass sie mehr Geld verdienen können als bei einem Job in ihrem Heimatland. Doch diese Hoffnung ist teuer erkauft. Sie sind monatelang von zuhause weg und setzen sich einem hohen Risiko aus.
Wie sieht der Alltag der Lkw-Fahrer aus Osteuropa aus?
Sie vagabundieren monatelang unter schwierigsten Bedingungen durch Westeuropa, getrennt von ihren Familien. Sie vegetieren auch an Wochenenden in ihren Führerhäusern herum, auch wenn das hierzulande verboten ist. Aber es wird eben nicht kontrolliert. Schauen Sie sich nur mal an einem Sonntag an einer Raststätte oder einem Autohof um: Osteuropäische Lkw-Fahrer machen sich auf einem Gaskocher ihr Dosen-Essen warm, weil sie sich den Besuch eines Restaurants oder einer Imbissbude nicht leisten können. Sie waschen notdürftig ihre Kleidung und trocknen diese über dem Kühlergrill. In ihrer Verzweiflung greifen sie dann zur Wodkaflasche.
Nach der Unfallfahrt in NRW sprach der NRW-Landesverband der Deutschen Polizeigewerkschaft mit Blick auf Alkohol, Drogen und Medikamente bei osteuropäischen Lkw-Fahrern von „Alltagsproblemen“. Ist das auch Ihre Sicht der Dinge?
Leider ja. Viele nehmen Aufputschmittel, Medikamente und Alkohol, um dem Druck und der sozialen Isolation standhalten zu können. Wir haben es häufig mit Menschen am Lkw-Steuer zu tun, die nicht ausgeschlafen sind. Mir wird mulmig, wenn ich an einer Baustelle auf verengten Fahrstreifen unterwegs bin. Ich denke mir dann: Wie aufmerksam ist der Lkw-Fahrer neben mir. Hoffentlich schert er nicht übermüdet aus.
Seit Jahren sollen sich die Arbeitsbedingungen für Lkw-Fahrer in der Europäischen Union verbessern. Wie weit ist man?
Es gab in einzelnen Fällen strukturelle Verbesserungen. Zum Beispiel sind polnische Speditionen jetzt professioneller unterwegs. Das Problem prekärer Arbeitsbedingungen für Lkw-Fahrer wandert aber immer weiter nach Osten – in Länder wie Weißrussland, Lettland, Litauen oder Estland. Die Großen in der Logistik- und Transportbranche machen hohe Gewinne, aber am Ende geht das immer auf Kosten von Menschen.
Der Lkw-Fahrer, der für die Unfallserie auf den Autobahnen 46 und 1 verantwortlich war, ist in eine Psychiatrie eingeliefert worden. Von der Polizei hieß es, dass seine Spedition mit Blick auf seinen Gesundheitszustand eher „teilnahmslos“ gewesen sein soll. Anders sei das beim Thema Fracht gewesen. Typisch?
Die Empathie in der Branche ist gering. Mehr noch: Es ist egal, wenn einer auf der Strecke bleibt. Osteuropäische Lkw-Fahrer sind die ärmsten Teufel auf deutschen Straßen.
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