Hagen/Meschede. Viele Kitas in NRW funken finanziell SOS. Ein Kita-Träger aus Südwestfalen legt hier den genauen Haushaltsplan einer Einrichtung vor.
Die Provokation nehmen die beiden erst mal gelassen hin. Gut 14.000 Euro Minus in ihrer Kita – das klingt doch gar nicht so schlimm, in jedem Fall nicht nach einem existenzgefährdenden Defizit, oder?
Kirsten Janning und Michael Stratmann, Finanzleiterin und Geschäftsführer der katholischen Wir-Kitas, die in Sauer- und Siegerland 180 Einrichtungen betreiben, atmen erst mal durch. Dann antworten sie: „Im Verhältnis zu den zur Verfügung stehenden Mitteln ist dieses Minus bestandsbedrohend. Wenn man das auf 180 Kitas hochrechnet, dann klingt das auch nicht mehr, als wäre es nicht allzu viel.“ Dann sind es nämlich rund 2,5 Millionen Euro Verlust. In einem Jahr.
Seit Monaten wird in Nordrhein-Westfalen über die Finanzlage vieler Kindertagesstätten debattiert. Landesweit funken nicht-kommunale Kita-Träger SOS, das Land lasse sie finanziell verhungern. Es gab Demonstrationen und Warnungen vor Insolvenzen.
Kirsten Janning und Michael Stratmann von den Wir-Kitas haben daher der WESTFALENPOST einen detaillierten Haushaltsplan einer ihrer 180 Kitas in Südwestfalen zur Verfügung gestellt, um aufzuzeigen, wie defizitär das System ihrer Meinung nach ist.
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Personalkosten könnten weiter steigen
13.984 Euro und 13 Cent, so lautet das exakte – negative – Jahresergebnis der Kita, deren Namen Janning und Stratmann nicht nennen. Sie liege im Hochsauerlandkreis, der Haushaltsplan (Auszug siehe Grafik) sei repräsentativ, das genannte Defizit ist das Planergebnis für das am 1. August begonnene und bis Ende Juli 2025 laufende Kita-Jahr.
In der Einrichtung kümmern sich insgesamt zehn Mitarbeiter um 52 Kinder (in drei Gruppen). Kosten für das Personal: 431.717,60 Euro. Es ist üblicherweise der größte Ausgabenposten. Je nach Kita machten die Personalaufwendungen 82 bis 88 Prozent der Kosten aus. „Das übrige Geld reicht nur noch, um sicherheitsrelevante Maßnahmen in unseren Kitas durchzuführen. Viele unserer Gebäude sind aber in die Jahre gekommen, da müsste was gemacht werden. Das ist ein ähnliches Thema wie bei vielen Schulen“, sagt Geschäftsführer Michael Stratmann.
Da Anfang 2025 die nächsten Tarifverhandlungen anstehen, könnten die Personalkosten weiter steigen. Zu den Personalkosten kommen in der Kita im Hochsauerlandkreis weitere Ausgaben in Höhe von 115.687,67 Euro etwa für Energie, Wasser, Internet, Spielmaterial für die Kinder, Versicherungen, Reinigung, Fachliteratur, Schornsteinfeger, Porto, Fortbildungen, Steuern für Grundstücke und so weiter und so fort. In Summe betragen die Ausgaben: 547.405,27 Euro.
Diesen Kosten stehen Einnahmen von 533.421,14 Euro gegenüber. Diese beinhalten vor allem die im Kinderbildungsgesetz (KiBiz) geregelten Kindpauschalen, welche sich im vorliegenden Fall zu 89,7 Prozent aus öffentlichen Mittel (Jugendamt und Land) sowie aus dem Anteil des kirchlichen Kita-Trägers (10,3 Prozent) zusammensetzen. Auch die Kita-Gebühren, welche Eltern an die jeweilige Kommune entrichten, fließen in den Anteil des Jugendamtes an den Kindpauschalen. Zudem können Kita-Träger Landes-Zuschüsse erhalten, etwa für Auszubildende oder die sogenannten Alltagshelfer, die Erzieher beispielsweise beim Zubereiten von Essen unterstützen.
„Das System KiBiz ist eigentlich darauf angelegt, Rücklagen für erforderliche Investitionen aufzubauen. Dies funktioniert seit vier Jahren nicht mehr.“
Sieben Millionen eingespart – und trotzdem im Minus
Die Wir-Kitas, die aus drei Träger-Gesellschaften (Hellweg, Hochsauerland-Waldeck, Siegerland-Südsauerland) bestehen und rund 3300 Mitarbeiter beschäftigen, hatten wie andere Träger in NRW bereits vor Monaten öffentlich Alarm geschlagen und harte Sparmaßnahmen angekündigt (wir berichteten). So wurden etwa die Zahl der Ausbildungsplätze halbiert und der Flex-Pool abgeschafft, durch den kurzfristige Personalausfälle ausgeglichen werden können.
Mittel- und langfristig könnten diese und andere Sparmaßnahmen den Kitas auf die Füße fallen, die Betreuung der Kinder verschlechtern und die Belastung für die Mitarbeiter erhöhen, das weiß auch Geschäftsführer Stratmann, der dennoch keine Alternative sieht. Erst einmal aber haben die Einsparungen mit dafür gesorgt, dass das Jahres-Defizit verringert wird.
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In der erwähnten Modellrechnung der Kita aus dem Hochsauerlandkreis betrug das Minus im vergangenen Geschäftsjahr nach vorläufiger Abrechnung 56.646,74 Euro. Nun rechnet der Träger mit jenen knapp 14.000. Der Verlust aller Wir-Kitas wurde zuletzt mit fast neun Millionen Euro angegeben. Die Planung für das laufende Jahr ergibt ein negatives Gesamt-Ergebnis von zwei Millionen Euro. Das aber, betont Stratmann, werde eben nur „durch erhebliche Einsparungen erreicht, die sich auf den Betrieb der Kitas auswirken“. Und zwar negativ, soll das heißen.
Die Beispiel-Kita aus dem Hochsauerlandkreis fuhr ausweislich der Angaben des Trägers in den vergangenen drei Jahren ein Minus von 141.531,07 Euro ein. Die drei Gesellschaften der Wir-Kitas verzeichneten im selben Zeitraum einen Gesamt-Verlust von 18,574 Millionen Euro. Dabei sei das System des Kinderbildungsgesetzes (KiBiz) eigentlich darauf ausgelegt, dass die Träger Rücklagen für erforderliche Investitionen aufbauten. „Dies“ jedoch, sagt Stratmann, „funktioniert seit vier Jahren nicht mehr.“
Forderung: Land muss einspringen
Die Defizite seien bisher teils aus KiBiz-Rücklagen, die inzwischen jedoch aufgebraucht seien, sowie aus Eigenkapital des Trägers ausgeglichen worden. „Dies wird in Zukunft bestandsgefährdend für unsere Kitas und unser Unternehmen, daher ist ein Ausgleich der Defizite für 2025/26 durch die Landesregierung zwingend erforderlich“, sagt Finanzchefin Kirsten Janning. Aufgrund der auch in NRW angespannten Haushaltslage aber ist ungewiss, ob mehr Hilfe vom Land kommen wird.
Das NRW-Familienministerium um Ressortchefin Josefine Paul (Grüne) verweist darauf, dass das Land zum einen bereits 100 Millionen als einmalige Überbrückungshilfe an die Kita-Träger gezahlt habe. Zum anderen sei die Kindpauschale zum laufenden Kita-Jahr um rund zehn Prozent erhöht worden, insgesamt seien dies 370 Millionen Euro zusätzlich. Diese Maßnahme sorge für eine „finanzielle Entlastung der Träger“, so das Ministerium.
„Die Defizite für 2023/24 und 2024/25 finanzieren wir aus Eigenkapital. Dies wird in Zukunft bestandsgefährdend für unsere Kitas und unser Unternehmen.“
Stratmann bemerkt dazu, dass sowohl Überbrückungshilfe als auch die erhöhte Kindpauschale bereits im vorgelegten Haushaltsplan berücksichtigt seien, aber unterm Strich dennoch ein Minus bleibe: „Wie erkennbar“, sagt der Geschäftsführer, „war die Steigerungsrate zu gering.“
Kita-Mitarbeiter und Geschäftsführung seien „höchst unzufrieden“ mit der Landesregierung. Es brauche „dringend weitere Hilfen“ und eine Lösung des strukturellen Problems der gesetzlichen Unterfinanzierung. Bis zu einer Novellierung des Kinderbildungsgesetzes in 2026 oder später könne „keine Kita und kein Kita-Träger warten“, so Stratmann.
Aussage von Ministerin Paul als „Ohrfeige“ gewertet
Über die finanziellen Bedingungen äußert sich der Geschäftsführer sehr sachlich. In einem anderen Punkt aber wird er emotional, genauer: wütend.
Krankheitsfälle und Personalmangel zwingen immer mehr Kitas in NRW zur Schließung oder Einschränkung des Betreuungsangebotes. Das bestätigte Familienministerin Paul unlängst in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der SPD-Opposition im Landtag. Auch bei den Wir-Kitas mache sich diese Entwicklung bemerkbar, sagt Stratmann. Nach der finanziell-bedingten Abschaffung des Flex-Pools sei im laufenden Kita-Jahr „vermehrt mit Einschränkungen zu rechnen“.
Dass Familienministerin Paul in diesem Zusammenhang erklärt hatte, die Verantwortung für die Sicherheit und Gesundheit von Beschäftigten obliege „grundsätzlich dem Träger“, bringt Stratmann auf die Palme. Man versuche, der Verantwortung gerecht zu werden. Aber „vor dem Hintergrund der fehlenden Auskömmlichkeit der Finanzierung haben Mitarbeiter und wir die Aussage von Frau Paul als Ohrfeige erlebt“, sagt der Geschäftsführer der Wir-Kitas.