Düsseldorf. Ein neues Kita-Jahr beginnt, aber die Sorgen sind die alten. Warum Familien nicht mit einer besseren Kinderbetreuung rechnen können.
Mit großer Sorge blicken Träger von Kinderbetreuungseinrichtungen, Erzieherinnen und Erzieher sowie Eltern in NRW auf den Start ins neue Kita-Jahr am 1. August.
„Ein neues Kita-Jahr beginnt, die Krise bleibt“, teilte am Dienstag das „Kita-Bündnis NRW“ mit – ein Zusammenschluss von 70 freien Kita-Trägern und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Sorgen des vergangenen Kita-Jahres – Personalmangel und hoher Kostendruck – überschatteten auch den Beginn des neuen.
NRW-Landesregierung gibt zu: „Die Lage ist aktuell angespannt“
NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) spricht von einer „aktuell angespannten Lage“, signalisiert aber, dass das Land trotz leerer öffentlicher Kassen kräftig in die frühkindliche Bildung investiere. Allein 370 Millionen Euro gebe das Land für die zehnprozentige Erhöhung der Pauschale pro betreutem Kind aus. 200 Millionen Euro stelle die schwarz-grüne Landesregierung für den Kita-Ausbau bereit. Es gebe so viele Kita-Plätze wie noch nie in NRW, insgesamt seien es rund 764.000. „Jedes Kind soll in die Kita gehen können“, betont die Grünen-Politikerin.
Die Opposition zielt auf Ministerin Paul: „Mit ihr ist nichts besser geworden“
Die Opposition stellt der Ministerin hingegen ein desaströses Zeugnis aus. „Jetzt beginnt das dritte Jahr, das Josefine Paul als Familienministerin verantwortet. Nichts ist für die Kinder besser geworden“, sagte SPD-Familienexperte Dennis Maelzer am Dienstag. Der Ausbau der Kita-Plätze sei „mickrig“, und immer kehr Kitas hätten zuletzt ihre Betreuungsangebote deutlich einschränken müssen.
Marcel Hafke, familienpolitischer Sprecher der FDP im Landtag, spricht vom „Kita-Chaos“ und warnt: „Träger und Kommunen greifen zur Kita-Finanzierung auf Rücklagen zurück, Elterninitiativen betteln um Spenden.“ Hafke, Maelzer sowie das „Kita-Bündnis NRW“ fordern eine zügige Reform des Kinderbildungsgesetzes, um das angeschlagene Kita-System wieder krisensicher finanzieren zu können.
Wo bleibt das versprochene dritte beitragsfreie Kita-Jahr?
Noch nicht eingelöst ist im dritten Regierungsjahr das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag von CDU und Grünen: „Wir werden auch das dritte Kita-Jahr vor der Einschulung in ganz Nordrhein-Westfalen beitragsfrei machen.“
„Die Stimmung vor Ort ist explosiv: Verzweifelte Eltern, überlastete Fachkräfte und Kinder, denen nicht die frühkindliche Bildung zukommt, die sie benötigen“, sagen Jürgen Reul und Annette Holtmann, die die freien Kinderzentren Kunterbunt und Villa Luna leiten, in einer Mitteilung des Kita-Bündnisses NRW. Es gehe jetzt um eine frühkindliche Bildung, die diesen Namen auch verdiene.
Wie viel Dampf auf dem „Kita-Kessel“ ist, wurde im Mai bei einer Protestaktion vor dem Landtag deutlich. Damals nahm Ministerin Paul eine Petition mit rund 30.000 Protest-Unterschriften „zur Rettung der Kitas“ entgegen, inzwischen sind es rund 35.000. Paul wurde mit Kritik wie dieser konfrontiert: „Unsere Leute sind krank. Wir haben kein Personal. Sie müssen was tun.“
Zwischen Vorfreude und Bangen: So blicken Familien auf den Start ins Kita-Jahr
Der Start ins Kita-Jahr ist für Familien mit kleinen Kindern eine spannende, zum Teil nervenaufreibende Zeit. Wird meine Tochter oder mein Sohn in der Kita zurechtkommen? Gibt es genügend Erzieherinnen und Erzieher dort? Bekomme ich die Betreuungszeit, die ich mir für mein Kind wünsche? Diese und viele andere Fragen bewegen Eltern. Erschwerend hinzu kommt, dass die frühkindliche Bildung in NRW in einer tiefen Krise steckt.
Wie sieht die NRW-Landesregierung die Lage?
Sie räumt ein, dass die Lage ernst sei. Familienministerin Josefine Paul (Grüne) betont aber, dass es erstens so viele Kita- und Betreuungsplätze in NRW gebe wie noch nie – rund 764.000 –und dass die Landesregierung -- der angespannten Haushaltslage zum Trotz -- viel Geld in die Hand nehme, um die Probleme zu lösen.
Um die unter Kostendruck leidenden Kita-Träger zu entlasten, erhalten die Einrichtungen im Zuge der „Dynamisierung“ des Kinderbildungsgesetzes (Kibiz) ab dem 1. August eine um rund zehn Prozent höhere Pauschale pro betreutes Kind, erklärt Paul Insgesamt seien das 370 Millionen Euro mehr.
Die Investitionen in den Kita-Ausbau für das Jahr 2024 seien auf insgesamt 200 Millionen Euro erhöht. worden So könnten dringend benötigte Kita-Plätze entstehen. Das Land setzt auch das Kita-Helfer-Programm fort, um das pädagogische Personal zu entlasten.
„Frühkindliche Bildung ist kein ‚Nice-to-have‘, sondern essenziell für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft“, sagt Ministerin Paul. Sie sieht sich auf gutem Weg.
Reicht die Finanzierung durch das Land NRW?
Sie reicht offenbar hinten und vorne nicht – trotz der höheren Kibiz-Pauschale ab August und einer schon zuvor geleisteten „Überbrückungshilfe“ über 100 Millionen Euro, mit denen die freien Kita-Träger Löcher stopfen sollen, die ihnen durch hohe Tarifabschlüsse und allgemeine Kostensteigerungen schon vor Monaten entstanden sind.
„Die Einrichtungen sind unterfinanziert“, sagte der SPD-Familienexperte Dennis Maelzer am Dienstag. Die 370 Millionen Euro zur Dynamisierung“ der Kind-Pauschalen seien gesetzlich vorgeschrieben, also keine freiwillige Leistung des Landes. Damit würden nur jene Kostensteigerungen abgebildet, die es 2023 gegeben habe. Die Teuerungen des laufenden Jahres spielten dabei noch keine Rolle, so Maelzer.
Um überleben zu können, müssten viele Kita-Träger auf Rücklagen zurückgreifen, sofern sie die noch hätten, warnt das „Kita-Bündnis NRW“. In den sich freie Kita-Träger und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zusammengeschlossen haben. Das Wiederauffüllen dieser Rücklagen werde viele Jahre dauern.
Im Grunde betrage die Finanzierungslücke mindestens 500 Millionen Euro für die Kitas in NRW, so die SPD. Die 200 Millionen Euro für den Kita-Ausbau deckten kaum den Bedarf. Die Summe des Vorjahres – 115 Millionen Euro – sei schon im Mai 2023 aufgebraucht gewesen.
Noch ein Problem: Von rund 80 Millionen Euro „Flexibilisierungsmitteln“, mit denen die Öffnungszeiten erweitert werden sollen, seien 2023 insgesamt 27 Millionen Euro gar nicht erst abgerufen worden, so die SPD. Zum Teil hätten die Kitas nicht das Personal für längere Öffnungszeiten, zum Teil schrecke der geforderte Eigenanteil von 25 Prozent die Kommunen ab.
Gibt es genügend Kita-Plätze in NRW?
Es gibt zwar mehr als früher, aber der Zuwachs ist zum neuen Kita-Jahr minimal. Bei den unter Dreijährigen kämen nur 466 Stellen dazu, rechnet Maelzer vor. Dabei fehlten laut der Bertelsmann-Stiftung in NRW 90.000 U3-Plätze.
Mehr als 150.000 Erzieherinnen und Erzieher
In den letzten fünf Jahren wurden laut Ministerium rund 53.000 neue Betreuungsplätze geschaffen. Im Kindergartenjahr 2024/2025 - es beginnt am 1. August - verfügt NRW über 764.225 Plätze. Davon sind 543.141 Plätze für die über Dreijährigen und 221.084 Plätze für Jungen und Mädchen unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege. In den Kitas arbeiten aktuell rund 140.000 Menschen, in der Kindertagespflege sind es 15.000 Personen. (dpa)
Wie ist die Lage beim Kita-Personal?
Gewerkschaften zufolge gehen viele Erzieherinnen und Erzieher „auf dem Zahnfleisch“, und der Krankenstand sei hoch. Zudem verhindere der Kostendruck Neueinstellungen. Folge: Im Februar und März 2024 mussten in NRW mehr als 3.000 Kitas ihr Betreuungsangebot einschränken oder komplett schließen. Beobachter befürchten, dass die Betreuungszeiten aufgrund von Personalmangel immer mehr gekürzt werden könnten.
Wo bleiben die angekündigten Quereinsteiger?
Sie lassen auf sich warten. Ein Modellversuch für das von Ministerin Paul angekündigte Projekt „Qualifizierter Quereinstieg in die Kinderbetreuung“ (Qik) ist vorerst gescheitert. Drei von vier Modellkommunen verschieben den Start, weil sie nicht wissen, ob sie Qik finanzieren können. Aachen wirft der Landesregierung vor, falsche Erwartungen geweckt zu haben: Man sei davon ausgegangen, dass die Bundesagentur für Arbeit und das Land NRW die Qik-Kosten übernehmen würden.
Welche Verbesserungsvorschläge gibt es?
Die Opposition ruft nach einer zügigen Erneuerung des Kinderbildungsgesetzes. „Der für das Ende des zweiten Quartals 2024 angekündigte Referentenentwurf lässt weiter auf sich warten. Die Landesregierung muss endlich handeln und eine krisensichere Finanzierung des Kita-Systems sicherstellen“, sagte FDP-Kita-Experte Marcel Hafke.
Die SPD schlägt vor, die nicht genutzten „Flexibilisierungsmittel“ für das vom Scheitern bedrohte Qik-Projekt zu nutzen. Mit Erzieherinnen und Erziehern, die im Ruhestand seien, aber noch Freude am Beruf hätten, könnten Jugendämter „Springer-Pools“ bilden, um Personallücken zu überbrücken.
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