Meschede. Erzieherinnen im Sauerland warnen vor Folgen der geplanten Kürzungen: „Was hier verpasst wird, holt man nicht so leicht auf.“
Sie hat eben noch mit 14 Kindern der Roten Gruppe zum Start in den Tag gesungen, „Guten Morgen, Ihr Leute, wie wird es denn heute, was bringt uns der Tag?“ Nun sitzt Franziska Igges im Büro ihrer Kollegin und Chefin Indra Kiesewetter, und es steht nicht nur die Frage im Raum, wie es denn heute wird, sondern, was die kommenden Monate für ihre Kita in Meschede, aber auch für viele andere Kindergärten im Land bringen werden.
In Südwestfalen schlug zuletzt der Träger der 182 katholischen „Wir-Kitas“, zu der auch der St. Raphael-Kindergarten in Meschede gehört, öffentlich Alarm. Ab August, zum neuen Kita-Jahr, sollen Sparmaßnahmen greifen, die als derart massiv bezeichnet werden, dass Kita-Leiterin Kiesewetter in Meschede von „dramatischen“ Auswirkungen auf die Kinder-Betreuung, „entsetzten“ Eltern und einem „Teufelskreis“ spricht, während Geschäftsführer Michael Stratmann „in diesem Land die Bildungsziele“ gefährdet sieht.
Landesweit funken nicht-kommunale Kita-Träger SOS, von Millionendefiziten ist die Rede, von drohenden Insolvenzen, von Vorwürfen an das Land, das freie Kita-Träger finanziell verhungern lasse. Die Situation gilt als komplex – und gibt Anlass zu einem Besuch an der Basis, in der katholischen Kita St. Raphael in Meschede.
Künftig nur noch Mindeststandards
Den ersten Unfall des Tages registriert Indra Kiesewetter gegen 8:21 Uhr. Das Opfer: eine Schüssel Müsli, möglicherweise Schokomüsli. Am Tatort ist noch zu erkennen, wie sich die Müsliflocken und die braun gefärbte Milch auf dem Boden ausbreiten.
Kiesewetter nimmt‘s gelassen, ein umgestoßener Teller im Kindergarten – Routine für die Erzieher. Ganz im Gegensatz zu dem, was sich über ihrer Kita zusammengebraut hat. Die katholischen „Wir-Kitas“, die in Südwestfalen über drei Träger-Gesellschaften (Hellweg, Hochsauerland-Waldeck, Siegerland-Südsauerland) 182 Einrichtungen betreiben und rund 3300 Mitarbeiter beschäftigen, haben unter anderem angekündigt, den sogenannten Flex-Pool abzuschaffen, durch den kurzfristige Personalausfälle ausgeglichen werden können. Das werde zu einer höheren Belastung der Mitarbeiter in den Kitas führen. Auch werde die Zahl der Ausbildungsplätze halbiert. Perspektivisch in Zeiten von Personalknappheit und Fachkräftemangel ein Schuss ins Knie, das wissen auch Josef Mertens und Michael Stratmann. Die Geschäftsführer der Trägergesellschaft bezeichnen ihre Entscheidung als „kontraproduktiv“, aber eben auch als „alternativlos“. Zu groß sei nun mal das Defizit, das mit neun Millionen Euro pro Jahr angegeben wird.
Laut Indra Kiesewetter und ihrer Stellvertreterin Franziska Igges bedeuten die Maßnahmen, dass sie in ihrer Kita, die 65 Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren betreut, künftig mit weniger Personal auskommen müssen, was weniger Zeit für die Betreuung der Kinder und für die Zusammenarbeit mit den Eltern bedeute, zudem Zusatz-Veranstaltungen wie den Sankt-Martins-Zug oder den Schwimmkurs für Anfänger infrage stelle. Bisher hätten sie Extraleistungen anbieten können, selbst bei Personalausfällen nie die Öffnungszeiten reduzieren müssen. Ab Sommer aber werde wohl nur noch der „gesetzliche Mindeststandard gefahren“, sagt Igges.
Wie hart die Kürzungen ausfallen werden, das sei noch nicht final geklärt, aber substanzielle Einschnitte seien zu erwarten. Zwar werde niemandem gekündigt, aber es werde zu Versetzungen kommen. Die Stimmung im Team sei gedrückt, es herrsche Ungewissheit. „Die Auswirkungen der Kürzungen sind bedauerlich und werden dramatisch werden“, sagt Kiesewetter, „aber wir können nachvollziehen, warum der Träger so entschieden hat.“
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100 Millionen reichen nicht aus
Verantwortlich für die Misere machen Kita-Leitung wie Geschäftsführung vor allem das Land NRW. Die Finanzierung sei nicht mehr auskömmlich, sagen die Geschäftsführer Stratmann und Mertens. Inflation und gestiegene Lohnkosten infolge der jüngsten Tarifabschlüsse hätten die Kosten zu stark getrieben. Das Land – ebenfalls knapp bei Kasse – müsse mehr tun. „Das Dilemma ist, dass Kinder- und Familienministerin Josefine Paul den freien Kita-Trägern entgegenkommen und helfen möchte, aber Finanzminister Marcus Optendrenk sitzt am längeren Hebel. Die Finanzlage sticht den Inhalt“, sagt Josef Mertens und erklärt: „Wir glauben nicht, dass kurzfristig etwas passiert und wir mehr Geld erhalten vom Land.“
Laut seines Mitstreiters Stratmann, der betont, dass die Kita-Mitarbeiter die Gehaltserhöhungen verdienten, seien auch die 100 Millionen Euro, die das Land als Überbrückungshilfe gezahlt hat, zu wenig. „Von den 100 Millionen Euro für die 8050 Kitas der freien Träger in NRW kommen bei uns pro Kita 11.700 Euro an. Wir haben pro Kita jedoch ein negatives Betriebsergebnis von im Schnitt 45.000 Euro“, sagt Geschäftsführer.
Eine Rolle, so Stratmann weiter, spiele auch die nachlaufende Finanzierung des Landes, das den Trägern die Kosten erst mit einer Verzögerung von 12 bis 18 Monaten zahle: „Das bewirkt, dass die Finanzierung der Kostenentwicklung ständig hinterherläuft. Wir bräuchten höhere Zahlungen, um das Defizit mal auszugleichen.“
Kita-Leiterin warnt vor langfristigen Auswirkungen
Um den Druck auf die Politik zu erhöhen, aber auch, um den Druck durch besorgte Eltern auf die Kitas abzufedern und sich zu erklären, sind die Geschäftsführer an die Öffentlichkeit gegangen. Stratmann sieht die Notwendigkeit einer „ehrlichen Debatte über die Qualität der Kita-Versorgung“. Und das müsse eine öffentliche Debatte sein, „denn bisher wird sie oft auf der Ebene der Mitarbeitenden und Eltern ausgetragen“. Beispielsweise von Erzieherinnen wie Indra Kiesewetter und Franziska Igges.
Kiesewetter äußert Verständnis für die Situation von Eltern. Die müssten Kinderversorgung und Berufsleben unter einen Hut bringen. Die Kürzungen ab Sommer könnten sich auch darauf auswirken. „Wir haben die Sorge, dass, wenn eine Krankheitswelle sechs Mitarbeiter außer Gefecht setzt, wir das künftig nicht mehr auffangen können. Müssen wir dann eine Gruppe schließen oder Öffnungszeiten reduzieren? Die Eltern müssten dann sehen, wie sie das regeln. Das ist ein Teufelskreis, denn die Eltern gehen ja arbeiten, stehen auch unter Druck“, sagt Kiesewetter.
Vor allem würden die Kürzungen jedoch „auf Kosten der Kinder gehen“ – und damit, mittel- und langfristig, auch auf Schulen und Gesellschaft. Die Kitas würden den Kindern Bildungsgrundlagen, Selbstbewusstsein, Selbstorganisation und vor allem Sozialverhalten vermitteln. Dafür sei „viel individuelle Arbeit mit Fingerspitzengefühl erforderlich, weil jedes Kind, vor allem die ganz kleinen, sehr unterschiedliche Bedürfnisse hat“, sagt Kiesewetter und mahnt: „Hier werden die Weichen für das soziale Miteinander gestellt. Wenn das leidet, setzt sich das später in der Schule fort. Was hier verpasst wird, holt man nicht so leicht auf. In diesem Bereich Einsparungen vorzunehmen hat langfristige Folgen.“