Iserlohn. Die ersten Tage der Heim-EM kommen im TV wie eine bunte Party daher. Aber wie wird man Teil davon? Eine Spurensuche im Sauerland.
Dieses Turnier kann sich irre weit weg anfühlen. Montag, 15.32 Uhr. Rumänien spielt gerade gegen die Ukraine. Live im Fernsehen. Live auf der Videoleinwand in der Kneipe in Neheim. Pils zwei Euro, Orangensaft drei Euro. Ein Gast. Der Rasen, auf dem gespielt wird, leuchtet hell in der Sonne. In Neheim regnet es dicke Tropfen. In welcher anderen Klimazone findet dieses Turnier da gerade statt? Wie weit ist es weg?
Die ersten Spieltage dieser Europameisterschaft 2024 in Deutschland sind vorbei - und haben mitunter entzückende Bilder produziert: singende Schotten in München, tanzende Albaner in Dortmund, hüpfende Holländer in Hamburg. Eine Stadt in Orange. Was für eine Party. EM-Stimmung. Zumindest dort. Und in Südwestfalen? So nah und doch so fern - ist das Motto dieser EM vor der Haustür?
EM: Im Sauerland kann man den Stars recht nah sein
Es gibt Leute, die kommen ins Sauerland, um dem Turnier etwas näher zu sein. Francesco Forte zum Beispiel. „Forte, wie Voltaren forte“, sagt er. Schmerzmittel braucht er aber derzeit nicht, Italien hat ja das erste Spiel gewonnen und ist dann zurückgefahren in sein Quartier in Iserlohn. Unweit der Residenz, dem Hotel Vierjahreszeiten, haben die Italiener das Casa Azzurri aufgebaut, eine Begegnungsstätte mit italienischem Fußball-Museum, wo die Spieler in schwarzen Limousinen hingefahren werden, um mit Journalisten zu sprechen.
Wenn sie aussteigen, machen sie auch manches Mal Fotos mit Fans oder geben Autogramme. Deswegen ist Francesco ja da, zusammen mit seinem Papa Domenico und seiner Frau, Heike Massey, halbe Engländerin. Italien-Spiele schaut Francesco immer allein, sagt er. „Ich bin sehr nervös, man darf mich während des Spiels nicht ansprechen.“ Sie sagt: „Katastrophe.“ Und lacht.
44 Jahre alt, Italien-Shirt, Italien-Hose, Italien-Seele. „Italien ist mein Herz“, schmachtet Francesco. Alle anderen Spiele schaut er auch. „Diese Turniere sind etwas Wunderbares. Sie schaffen gerade in diesen Zeiten schöne, verbindende Momente.“ Momente, die er am Fernseher erlebt. Oder eben hier in Iserlohn. Die Karten fürs Stadion waren ihm zu teuer.
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Am Hotel Vierjahreszeiten, wo die Italiener wohnen, herrscht Leere. Regen prasselt auf den See im Wald, wo ein Hinweisschild über die heimischen Lurche aufklärt. Zwei Sicherheitsleute stehen in der Einfahrt des Hotels. „Du bist zu spät“, sagen sie. „Buffon ist wieder weg.“ Gemeint ist Gianluigi Buffon, mehrfacher Welttorhüter, Weltmeister, Weltmann. Nach knapp 20 Jahren beendete er 2018 seine Karriere in der Nationalelf, gehört aber dieser Tage mit zur italienischen Delegation.
Joachim Radigk hat ein Lächeln auf den Lippen, als er etwas weiter die Straße hinunter in sein Auto steigt. Aus Kassel ist er ins Sauerland gereist, zwei Stunden eine Fahrt. „Ohne Erwartungen“, sagt der Mann, der schon im Ruhestand ist. Er weiß ja, dass Fußballer bei Turnieren abgeschirmt werden. Aber er sammelt eben Autogramme und Erinnerungsstücke aus der Fußballwelt.
Auf Buffon hatte er es abgesehen. „Als er auf der Hotelterrasse einen Kaffe getrunken hat, haben ihn ein paar Fans schon gerufen“, sagt Radigk. Erst habe er nur gewunken, dann sei er zu ihnen gekommen. Radigk hat auf jetzt auf dem Buffon-Trikot ein Buffon-Autogramm. Und ein Foto gemeinsam mit der Legende. Das ist jetzt sein EM-Gefühl.
Stimmung im Stadion ist unbezahlbar - im wahrsten Sinne
Er liebe Fußball, seit Kindesbeinen an, sagt er. Bei der Heim-EM 1988 war er live im Stadion: Spanien gegen Dänemark in Hannover. Bei der Heim-WM 2006 hatte er Karten für Mexiko gegen Angola - auch in Hannover. Was für Feinschmecker. Dabei sein ist alles. Dabei sein ist dieses Mal zu teuer. „Die Stimmung im Stadion ist unbezahlbar“, sagt er. „Im wahrsten Sinne.“
Im zehn Kilometer entfernten Städtchen Menden hat der Frisör die schwarz-rot-goldenen Hawaiiketten ins Schaufenster gehängt. In Wurfweite davon, neben der Vincenzkirche, ist die Public-Viewing-Zone, die am vergangenen Freitag 800 Fans besuchten.
Neues Trikot mit dem Namen und der Nummer von Emre Can
Im Sportladen hängen die schönen Deutschlandtrikots in allen Farben (weiß oder lila-pink) und Größen nebeneinander. Ladenhüter? Keineswegs. Heute Morgen seien die Pakete mit den nachbestellten Größen reingekommen, sagt Dirk Hesse. Im März nachbestellt. „Wir haben in der vergangenen Woche einen unfassbaren Run auf die Trikots gehabt. Aber das steht und fällt jetzt mit dem Erfolg der Mannschaft.“ Pause. „Wir denken von Spiel zu Spiel.“
Wie Nadine Meyer (27). Sie war nämlich bis Sonntag im Urlaub. Am Montagmittag steht sie in Hesses Sportgeschäft und probiert das lila-pinkfarbnene Auswärtstrikot an - und trägt es zur Kasse. Den Namen und diue Nummer des nachnomminierten BVB-Spielers Emre Can lässt sie draufdrucken. 114,99 Euro alles zusammen. Auch kein Schnäppchen, aber egal.
„Ich war im Urlaub und bin daher noch nicht so richtig in Heim-EM-Stimmung. Aber ich hatte mir die ganze Zeit vorgenommen, direkt nach meiner Rückkehr ein Trikot zu kaufen“, sagt sie. Ein weißes hat sie noch von 2014 - dem Jahr des WM-Triumphs. Die Beflockung des neuen dauert bis Mittwochnachmittag. Gerade noch rechtzeitig fertig zum zweiten deutschen Spiel am Abend gegen Ungarn. Karten fürs Stadion hat sie nicht. Sie schaut mit Freunden. „Und einmal wollen wir auch nach Dortmund zum Public Viewing.“ Um noch näher dran zu sein.
Vielleicht ist Nähe aber gar nicht so wichtig, um ein Teil der EM zu sein, um Teil dieses Gefühls von Völkerverbindung und Freundschaft zu sein. Ausdruck dessen ist das höchst inoffizielle EM-Haus in Hagen. Besonderheit: An jedem Fenster des Mehrfamilienhauses weht eine andere Fahne. England neben Belgien, Rumänien neben der Türkei, Kroatien neben Dänemark. 19 Flaggen insgesamt.
Respekt gegenüber den anderen Nationen
„Schottland und Georgien fehlen mir“, sagt Petra Nehls. Sie ist Mieterin in dem Haus und versorgt die Nachbarn mit Flaggen aus ihrem Repertoire. Mehr als 50 hat sie. Zu jeder WM und zu jeder EM schmückt sie seit Jahren das Gebäude und bittet die Nachbarn, zu beflaggen. „Ich finde das einfach toll“, sagt sie. „Das drückt auch meinen und unseren Respekt vor den anderen Nationen aus.“ Sie schaue gern Fußball. Karten hätte sie gern gehabt. „Aber 400 Euro...?“ Sie winkt ab. „Dann kaufe ich mir lieber noch ein paar Fahnen.“