Hagen. Die Suizidrate in Deutschland ist deutlich gestiegen und die Jugend vereinsamt. Eine Telefonseelsorgerin gibt Einblick in den Alltag.

Dort, wo der bedenkliche Zustand der Gesellschaft sichtbar wird, sitzt Claudia Preuß-Schmidt und legt am liebsten die Füße auf ein Höckerchen aus Holz. „Je entspannter ich bin, desto besser kann ich helfen“, sagt sie. Licht fällt durch die hohen Fenster des alten Fabrikgebäudes in Hagen auf den Schreibtisch, auf dem eine Vase mit Blumen steht. Ein angenehmer Ort. Eigentlich. „Willkommen bei der Telefonseelsorge“, sagt Preuß-Schmidt. Jeder Anruf bedeutet blanke Not am anderen Ende der Leitung.

Die Not ist groß. Tendenz: steigend. „Was immer mehr zunimmt, sind Fälle von Jugendlichen, die über Einsamkeit und Orientierungslosigkeit klagen“, sagt Claudia Preuß-Schmidt. Seit sechs Jahren arbeitet die Gevelsbergerin ehrenamtlich für die Telefonseelsorge. Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes für 2022 sind die Suizidfälle in Deutschland deutlich gestiegen – um gleich zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Jedem Suizid geht ein nicht geführtes Gespräch voraus

Im Schnitt nehmen sich demnach 28 Menschen jeden Tag das Leben. Dreiviertel der Fälle betreffen Personen über 50 Jahre. „Teilweise stoßen wir an die Grenzen unserer Kapazitäten und haben Mühe, dem Aufgebot an Anfragen gerecht zu werden“, schildert Stefan Schumacher, Diözesanbeauftragter des Erzbistums Paderborn und Leiter der Telefonseelsorge Hagen-Mark, also für Städte wie Wetter, Herdecke, Schwerte, Hagen, Lüdenscheid, Plettenberg, Meinerzhagen. Jedem Suizid, sagt Schumacher, gehe ein nicht geführtes Gespräch voraus. Nicht jeder, der sich meldet, will sich das Leben nehmen. Aber für viele ist die Telefonseelsorge der letzte Faden, der sie in der Welt hält.

Bei ihrer letzten Schicht hatte Claudia Preuß-Schmidt eine Frau am Telefon, die nicht mehr leben wollte. Der Plan der Anruferin stand fest: Kohlenmonoxidvergiftung. Der Abschiedsbrief sei schon geschrieben, habe sie gesagt, eine Liste mit den wichtigsten Passwörtern bereits hinterlegt. „Ich habe als erstes gesagt: interessante Methode, wie kommen Sie darauf“, erinnert sich Claudia Preuß-Schmidt.

Portrait von Dr. Stefan Schumacher, Leiter der Telefonseelsorge Hagen-Mark in Hagen, am Montag, 03.06.2024. Einsamkeit, Angst, Depressionen: In der Telefonseelsorge des Erzbistums Paderborn melden sich Menschen, die verzweifelt sind.Foto: Olaf Fuhrmann / FUNKE Foto Services

„Teilweise stoßen wir an die Grenzen unserer Kapazitäten und haben Mühe, dem Aufgebot an Anfragen gerecht zu werden.“

Stefan Schumacher
Leiter der Telefonseelsorge Hagen-Mark

Die beiden sprechen und sprechen und sprechen. „Am Ende hat sie sich bei mir bedankt und gesagt: Sie sind die Erste, die nicht versucht hat, mir das auszureden“, sagt Preuß-Schmidt. Wichtig bei der Telefonseelsorge sei, die Menschen ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören. Das schaffe emotionale Entlastung. Ob es etwas geholfen hat? Weiß man bei der Telefonseelsorge nie. Alles läuft strikt anonym ab. „Ich hatte das Gefühl, dass sie es nicht tun wird – zumindest nicht an diesem Tag“, sagt Claudia Preuß-Schmidt. Aber die Ungewissheit bleibt.

Sie sagt, sie schlüpfe in eine Rolle, sie hat einen Alias-Namen, mit dem sie sich meldet. Diese Rolle mache es ihr leichter, das abzustreifen, was sie hört. „Ich lade nicht den Schmerz der Welt auf mich“, sagt sie. Aber natürlich sind da immer wieder Geschichten aus Leben, die völlig anders hätten laufen sollen. Die jüngsten Anrufer und Anruferinnen seien zehn Jahre alt. Manche Jugendliche ritzten sich die Arme auf, andere hätten das Borderline-Syndrom oder Depressionen, wieder andere seien schon von Therapeut zu Therapeut weitergereicht worden – ohne Effekt. Gerade die Jüngeren riefen nicht mehr bei der Seelsorge an, sie nutzten lieber den Chat. E-Mail geht auch. 

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Die Anfänge der Telefonseelsorge liegen Ende des 19. Jahrhunderts in New York. Damals stieg mancherorts ebenfalls die Suizidrate. Grund offenbar: das gestiegene Maß an Einsamkeit in rasend schnell wachsenden Großstädten. Folgen der Industrialisierung. Was Claudia Preuß-Schmidt spürt, sind möglicherweise die Folgen der Digitalisierung.  

„Die ratsuchenden Jugendlichen sind unfassbar einsam“, sagt Claudia Preuß-Schmidt. Sie klingt besorgt. „Viele haben überhaupt keine Vertrauensperson mehr, weder Eltern noch Freunde oder Geschwister. Die Einsamkeit verunsichert sie. Sie sind auf der Suche.“ Aus Einsamkeit entstünden Ängste. Eine junge Frau, die sich regelmäßig melde, klage über Panikattacken. Das Einzige, was ihr Halt gebe: ihr Kuscheltier. Und die Telefonseelsorge.

Social Media als Treiber der Einsamkeit

Social Media spiele beim Prozess des Vereinsamens eine große Rolle. Die permanente Erreichbarkeit belaste viele Menschen und fördere das Bedürfnis nach Rückzug. Der wiederum mache einsam. „Die Unterscheidung zwischen virtueller und realer Welt, zwischen virtuellen und echten Freunden fällt vielen schwer“, sagt Preuß-Schmidt. Sie wollten Freiheit spüren, hätten Grenzen aber nie kennengelernt. Das eine gehe ohne das andere nicht.

Telefonseelsorge

Im Erzbistum Paderborn gibt es neben dem Bereich Hagen-Mark fünf weitere Telefonseelsorge-Stellen: Siegen, Dortmund, Paderborn, Bielefeld und Hamm. Die Telefonseelsorge ist Teil des Bereichs Pastorale Dienste im Erzbischöflichen Generalvikariat und wird rein durch Kirchensteuern finanziert.

Wichtiger Hinweis: Wenn Sie unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.

54 Jahre alt ist sie heute, sie arbeitet als Bankkauffrau, drei mittlerweile erwachsene Kinder hat sie. Sie las in der Zeitung davon, dass die Telefonseelsorge Mitarbeiter brauchte. Ihr erster Impuls: Dafür bin ich nicht gemacht. Ihr zweiter: Ich rufe mal an. Sie sagt, dass sie etwas zurückgeben wolle, weil es ihr gutgehe. Ein Jahr dauert die Ausbildung, dann erst durfte sie allein mit Ratsuchenden sprechen. 120 Stunden macht sie – wie alle anderen – im Jahr, ehrenamtlich. Rund 90 Mitarbeiter hat die Telefonseelsorge Hagen-Mark.

Unwiederbringliche Schäden durch Corona

Die Corona-Zeit, sagt Claudia Preuß-Schmidt, habe vielen zugesetzt. „Da sind unwiederbringliche Schäden entstanden“, sagt sie. Sie erinnert sich, dass sie in der Zeit Kontakt zu einem Mädchen hatte, das blanke Angst gehabt habe: sexueller Missbrauch innerhalb der Familie. Nach einigen Wochen meldete sie sich nicht mehr. Wieder: Ausgang offen. „So etwas lässt hier niemanden kalt“, sagt die Seelsorgerin. Andererseits helfe es Betroffenen immens, mit jemandem zu sprechen, der ihnen glaube, der sie ernst nehme, der ihnen klarmache, dass nicht sie das Problem seien. Dann sei schon viel erreicht, dann sei der Grundstein gelegt für Gesundung, irgendwann. „Dafür“, sagt sie, „dafür mache ich das hier.“