Herdecke. Wenn man sich schon als Kind isoliert, steigt das Risiko für Krankheiten wie Schlaganfälle oder Demenz. Was eine Expertin rät.

Kann man Einsamkeit bei Kindern messen? Mit dieser Frage hat sich Professorin Dr. Susanne Bücker, die Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Witten/Herdecke lehrt, beschäftigt. Sie forscht seit sieben Jahren zu Einsamkeit und war als Sachverständige ständiges Mitglied der Enquete Kommission Einsamkeit des Landes NRW. Mit ihrem Team hat die Einsamkeitsforscherin einen Fragebogen entwickelt. 730 Kinder, Jugendliche und Eltern stellten sich den Fragen. Die darüber gewonnenen Erkenntnisse sollen helfen, vorbeugend gegen Einsamkeit vorzugehen. „Einsamkeit in frühen Jahren“, warnt die 32-Jährige, „kann chronisch werden und zu Krankheiten führen.“ Aktuelle Forschungen zeigten, dass soziale Isolation unter Kindern und Jugendlichen nach der Corona-Pandemie verbreiteter ist als angenommen.

Einsamkeitsexpertin Dr. Susanne Bücker ist Professorin für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Witten/Herdecke.
Einsamkeitsexpertin Dr. Susanne Bücker ist Professorin für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Witten/Herdecke. © dpa | Universität Witten

Was hat Sie zu der Studie bewogen?

Susanne Bücker: Die Forschung in Deutschland hat sich in Bezug auf Einsamkeit auf Erwachsene konzentriert. Die dünne Datenlage mit Blick auf Kinder und Jugendliche ist erschreckend. Es gibt dazu kaum Studien. Wir haben an der Universität Witten/Herdecke ein Instrument, einen Fragebogen für den deutschsprachigen Raum entwickelt. Vergleichbares gibt es nur im englischsprachigen Raum und in den Niederlanden.

Was ist das Besondere an ihrer Studie?

Wir haben schnell erkannt, dass es wichtig ist, die Kinder und Jugendlichen frühzeitig in die Studie mit einzubinden. Beim Fragebogen arbeiten wir mit einem kindgerechten Wortschatz und wir versuchen, die jungen Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit abzuholen. Dazu haben wir im Vorfeld eine Pilotierung durchgeführt. Wir haben mit 17 Kindern und Jugendlichen intensive Gespräche geführt. Ziel war es, mit ihnen herauszuarbeiten, was sie unter Einsamkeit verstehen. Wir sind konkret mit den jungen Menschen die Fragebögen durchgegangen und haben sie laut denken lassen. Die Kinder sollten uns daran teilhaben lassen, ob sie Worte oder Sätze verstehen. Die meisten Fragebögen zum Thema Einsamkeit sind auf Erwachsene ausgerichtet. Im Kontext konnten die Kinder zum Beispiel nicht verstehen, was es bedeutet, sich isoliert zu fühlen. Mit dem Wort „isoliert“ konnten sie nichts anfangen.

Sie befassen sich seit Jahren mit dem Thema Einsamkeit. Gab es bei den Befragungen Überraschungen?

Durchaus. Zum Beispiel, dass viele Eltern nicht richtig einschätzen können, ob ihre Kinder einsam sind oder nicht.

Gibt es ein erstes Fazit?

Unsere Erkenntnisse werden wir in wenigen Monaten präsentieren können. Anderen Studien zeigen aber, Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen kann chronisch werden. Und chronische Einsamkeit ist vergleichbar mit dauerhaftem Stress. Das kann gravierende gesundheitliche Konsequenzen haben und zum Beispiel das Herz-Kreislauf-System negativ beeinflussen. Wenn man sich schon als Kind früh und anhaltend isoliert, steigt das Risiko im Alter für Krankheiten, für Depression oder Angststörungen, aber auch für Schlaganfälle oder Demenz. Das ist in der Wissenschaft inzwischen bekannt, in der Gesundheitspolitik aber noch nicht ausreichend angekommen. Ich plädiere stark dafür, deutlich mehr Präventionsarbeit zu leisten.

Ist nicht jeder irgendwann mal einsam?

Einsam sein, ist etwas anderes als allein sein. Alleinsein beschreibt einen objektiven Zustand, aber Einsamkeit beschreibt ein subjektives Gefühl. Sich einsam zu fühlen, ist ein normales Gefühl, aber es gibt Kinder und Jugendliche, die anfällig sind, einsam zu bleiben.

Gibt es weitere Erkenntnisse?

Wir haben bereits erste Erkenntnisse, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auf ein erhöhtes Risiko, chronisch einsam zu werden, hindeuten. Bei Erwachsenen ist das zum Beispiel Schüchternheit. Ob das für Kinder und Jugendliche auch gilt, das muss noch untersucht werden, aber es ist naheliegend. Ein weiterer Faktor könnte bei Kindern sein, ob sie bei Dritten gut ankommen. Weitere Indikatoren sind wenig soziale Kontakte. Auch danach fragen wir in unserer Untersuchung. Wir haben zum Beispiel ein Kind befragt, das noch viele weitere Geschwister hat. Es hat angegeben, dass seine Eltern ab und zu wenig Zeit für ihn haben. Mama und Papa können es nicht allen recht machen. Auch das kann ein Stressfaktor sein. Andere Kinder gaben an, dass sich ihre Eltern nicht für ihre Belange interessieren oder mit Unverständnis reagieren. Wenn Kinder sich auf Dauer von ihren Eltern unverstanden fühlen, dann kann das zu einem Einsamkeitsrisiko werden.

Wie viele Kinder sind ihrer Meinung nach in Deutschland von Einsamkeit betroffen?

Eigene Daten haben wir noch nicht ausgewertet. Es gibt eine Studie aus Brandenburg, die sich mit Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 15 Jahren befasst hat. Demnach geben 13 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 11 bis 15 Jahren in Deutschland an, dass sie sich die meiste Zeit einsam fühlen. Der Anteil der stark einsamen deutschen Jugendlichen im Alter von 16 bis 20 Jahren variiert einer Studie der Universität Bochum zufolge zwischen 16,3 Prozent und 18,5 Prozent. Diese Zahlen lassen aufhorchen, da sie zeigen, dass Einsamkeit bei Weitem kein „Alten-Thema“ ist.

Hat die Pandemie wie ein Einsamkeits-Turbo gewirkt?

Während der Pandemie ist die Zahl der chronisch Einsamen deutlich gestiegen. Die Zahlen der Universität Bochum deuten darauf hin, dass heute mehr Jugendliche und junge Erwachsene von Einsamkeit betroffen sind als noch vor der Pandemie. Einsamkeit ist zwar eine Erfahrung, die zum Leben dazugehört, aber aus starker Einsamkeit kommen viele nicht mehr heraus, und deshalb besorgt mich der gestiegene Anteil der stark Einsamen unter den jungen Menschen.

Gibt es erste konkrete Erkenntnisse aus ihrer Befragung?

Ja. Die Kinder und Jugendlichen sind in Bezug auf dieses Thema nicht so verschlossen, wie angenommen. Sie sprechen offen darüber mit Erwachsenen, wenn man sie explizit danach fragt. Auch die Neunjährigen können schon reflektieren, ob sie sich einsam fühlen.

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Was kann man daraus schließen?

Um zu verhindern, dass sich Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen verfestigt und das weitere Leben prägt, ist Vorbeugung wichtig. Zum Beispiel, indem das Gemeinschaftsgefühl in Schulklassen gestärkt wird. Auch gilt es, Warnsignale für Einsamkeit frühzeitig zu erkennen und die Bedeutung sozialer Bindungen im Alltag der Kinder zu vermitteln. Sinnvoll wäre es, bereits in der Grundschule ab der dritten Klasse über das Thema Einsamkeit mit Kindern zu sprechen. Damit kann man nicht früh genug beginnen, der Gesundheit der Kinder zuliebe. Bisher haben wir leider zu wenig Materialien zu diesem Thema. Die Lehrkräfte könnten eine positive Rolle dabei spielen, ihnen fehlt dazu aber das entsprechende Lehrmaterial. Auch deshalb ist unsere Studie wichtig. Wir möchten mit unseren Erkenntnissen den Lehrkräften ein Werkzeug mit an die Hand geben. Zumindest einen Beitrag dazu leisten.

Gibt es Warnsignale für Eltern und Lehrer?

Es gibt sie. Dazu gehören, wenn Kinder oft über Bauchschmerzen klagen, sich zurückziehen oder Einschlafprobleme haben. Wenn sie plötzlich nicht mehr zum Kindergeburtstag wollen. Das sind nur einige. Ein weiteres Warnsignal kann sein, wenn ein Kind zum Beispiel früher immer mit Freundin Pia zusammen war und von einem auf den anderen Tag nicht mehr mit ihr zusammen sein will. Da ist die Frage, warum seht ihr euch nicht mehr, durchaus angepasst. Lehrkräfte könnten zum Beispiel darauf achten, wie sich die Kinder in den Pausen beschäftigen: Stehen sie abseits, gleichgültig neben den anderen? Wenn Eltern oder Lehrer merken, dass Kinder wenig von sozialen Interaktionen mit anderen Kindern berichten, wäre das auch ein guter Moment, die Kinder einmal explizit darauf anzusprechen. Solche Gespräche sind gar nicht so schwer wie so manches Elternteil denkt. Ich rate ihnen: Versuchen sie es einfach einmal, geben sie dem Kind den passenden Raum dafür. Gerade kleine Kinder, die das Wort einsam möglicherweise noch nicht für die Beschreibung ihrer Gefühle nutzen, können das Phänomen zumindest beschreiben, zum Beispiel, dass sie das Gefühl haben, dass die anderen Kinder oft Dinge machen, ohne sie zu fragen, ob sie mitmachen möchten. Heikel kann konkret ein Schulwechsel sein. Da machen Lotsen oder Paten Sinn, die den Kontakt mit den Kindern halten und sie begleiten. Viele verlieren durch den Schulwechsel ihre Freunde. Gerade dann sollten Eltern das Gespräch mit ihren Kindern suchen.