Düsseldorf. NRW hat erstmals die wachsende Einsamkeit unter Jugendlichen untersuchen lassen. Mit teilweise überraschenden Ergebnissen.

Als Hendrik Wüst vor ziemlich exakt einem Jahr im Düsseldorfer Landtag zum Thema Einsamkeit sprach, klang der Ministerpräsident ungewohnt pastoral. Jeder könne etwas tun, die „kleine Geste“ zu Weihnachten zähle, appellierte der Ministerpräsident und regte konkret an, Alleinerziehenden in der Nachbarschaft einen Teller Plätzchen vor die Tür zu stellen.

Im oft rauen Politikbetrieb provoziert solch regierungsamtliche Gefühligkeit schnell Spott, und nicht wenige fragten sich, was denn in den gewieften Machttaktiker Wüst gefahren sei. Doch der Ministerpräsident scheint fest entschlossen, die Zivilisationskrankheit Einsamkeit mit einer Ernsthaftigkeit auf seiner politischen Agenda zu halten, wie sie ihm nicht jeder zugetraut hätte.

Wüst sagt: "Einsamkeit ist eine heimliche Pandemie"

„Einsamkeit ist eine heimliche Pandemie“, sagte Wüst am Freitag, als er gemeinsam mit der Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann von der Ruhr-Universität Bochum erstmals eine Studie zu dem Phänomen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen in NRW vorstellte. Man sehe die wachsende Einsamkeit oft nicht und unterschätze die von ihr ausgehenden Folgen, so Wüst. Es sei „die neue soziale Frage unserer Zeit“.

Der Studie zufolge kennen die meisten Heranwachsenden in NRW Einsamkeitsgefühle in ihrem Alltag. Unter Jugendlichen ab 16 Jahren ist sogar fast jeder fünfte von starker Einsamkeit betroffen. Das Forscherteam um die bekannte Professorin Luhmann hatte in zwei Stichproben rund 950 Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren sowie knapp 1250 Achtklässler befragt. Bislang hatte sich die Wissenschaft vorrangig auf Alterseinsamkeit fokussiert, die oft zur Belastung wird, wenn der Lebenspartner und das soziale Umfeld verstirbt.

NRW-Jugendliche: Einsamkeitsgefühle ausgeprägter als vor der Pandemie

Die Studie zeigt nun, welche Spuren gerade die Corona-Krise in der jüngeren Generation hinterlassen hat. Einsamkeitsgefühle seien heute ausgeprägter, als es vor der Pandemie der Fall gewesen sei, sagte Luhmann. Es bleibt gewiss ein Problem, dass eine medizinisch exakte Definition von Einsamkeit weiterhin fehlt. Das subjektive Gefühl, dass zwischen den erwünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen eine schmerzhafte Lücke klafft, ist bei jedem anders ausgeprägt. Es gibt Menschen, die kommen wunderbar allein zurecht, wieder andere leiden immens, weil sie ihre zahlreichen Freundschaften als nicht tief genug empfinden.

Klar ist nur, dass die wie auch immer Betroffenen große Not verspüren und häufiger körperlich oder seelisch erkranken. Wüst sieht nicht nur medizinischen, sondern auch politischen Handlungsbedarf. Denn: „Menschen, die sich immer mehr einigeln, sind auch für die Demokratie ein Problem.“ Den Vereinen, Parteien, Gewerkschaften und ehrenamtlichen Initiativen fehlen Leute, die mitmachen wollen. Außerdem erhöht geringe Teilhabe an zwischenmenschlichen Netzwerken auch die Anfälligkeit für undemokratische Verführer. „Es kann auch sein, dass junge Leute einsam sind, die den ganzen Tag über das Smartphone kommunizieren“, erklärte Wüst.

Exzessiver Handy-Konsum ist gerade bei Achtklässlern ein Problem. Jugendliche, die mehr als sechs Stunden pro Tag mit Medien verbringen, sind deutlich einsamer als Altersgenossen, die sich anders beschäftigen können. Forscherin Luhmann will die Mediennutzung gleichwohl nicht verteufeln. Videospiele oder soziale Medien würden heute eben auch für Kommunikation und die Pflege von sozialen Beziehungen und Freundschaften genutzt.

NRW und die Einsamkeit: Diese Rolle spielen Armut und Diskriminierungserfahrung

Ihr Team hat einige Faktoren herausgearbeitet, die Einsamkeitsgefühle klar begünstigen. Jugendliche, die im letzten Jahr eine deutliche Verschlechterung ihrer finanziellen Situation erlebt haben, sind etwa einsamer als andere. Ohnehin vorhandene psychische Belastungen oder Diskriminierungserfahrungen machen ebenfalls anfälliger.

Wüst muss nun zu den Forschungsergebnissen politische Ableitungen finden. Es geht dabei um Aufmerksamkeit für das Thema und konkreten Maßnahmen. Er hat bereits im vergangenen Jahr in der Staatskanzlei eine „Stabsstelle“ eingerichtet und der Einsamkeit prominenten Platz in einer Regierungserklärung eingeräumt. Der Regierungschef setzte sich vor einigen Monaten persönlich in Düsseldorf ans „Einsamkeitstelefon“ und schenkte einer alten Dame sein Ohr. Im kommenden Jahr werde eine „Einsamkeitskonferenz“ organisiert und die Online-Gesprächsreihe „Engagiert gegen Einsamkeit“ gestartet, kündigte Wüst am Freitag an. Der Breitensport, zentraler Anker für ein gesundes und geselliges Leben bis ins hohe Alter, soll besser gefördert werden. „Menschen fehlt die Gesellschaft, aber der Gesellschaft fehlen auch die Menschen“, lautet Wüsts Losung.

NRW sieht sich in guter Gesellschaft. Der US-Bundesstaat New York hat jüngst die berühmte Sexualtherapeutin Ruth Westheimer zur neuen Anti-Einsamkeits-Botschafterin gekürt. Die lebenslustige 95-Jährige soll sich mit einem energiegeladenen „Halleluja“ in die Aufgabe gestürzt haben, teilte Gouverneurin Kathy Hochul Mitte November mit.