Hagen. Vor zwei Jahren wurde ein Familienvater auf der Steinert-Kirmes in Lüdenscheid erschossen. Zum Prozessstart äußert sich sein Bruder.

Er kam aus dem Sudan über Libyen nach Nordrhein-Westfalen, 2004 soll das gewesen sein, er lebte demnach 18 Jahre hier, war Bauarbeiter, hoffte auf ein besseres Leben. Dann ging er im Sauerland auf eine Kirmes – und kehrte als Leichnam in sein Heimatland zurück. Getötet durch einen Schuss, der gar nicht ihm galt.

So lautet, in brutaler Kurzfassung, die Lebensgeschichte des sudanesischen Asylbewerbers Alnour Bakhit, wie sie sein Bruder Ahmed erzählt. Der 32-Jährige ist aus Merseburg in Sachsen-Anhalt nach Hagen zum Prozessauftakt am Freitagmorgen gereist, sieben Stunden habe er mit Bus und Bahn gebraucht, erzählt er im Gespräch mit der WESTFALENPOST. Am Hagener Landgericht muss sich vor der 2. Großen Jugendstrafkammer ein heute 19-jähriger Marokkaner für den tödlichen Schuss auf der Steinert-Kirmes in Lüdenscheid verantworten, der Ahmed Bakhits Bruder Alnour am 21. Mai 2022 aus dem Leben riss und zwei Kinder zu Halbwaisen machte. Die Anklage lautet auf Totschlag.

Ich habe nicht nur meinen Bruder verloren, sondern auch meine Mutter. Und für was? Für nix.
Ahmed Bakhit - Bruder des Getöteten

Getöteter war ein Zufallsopfer

Das 40 Jahre alte Opfer aus Gummersbach, das laut seines Bruders zwei Söhne (16 und 12 Jahre alt) und deren Mutter in Deutschland hinterließ, und der Angeklagte sollen sich nicht gekannt haben. Der Getötete war demnach ein Zufallsopfer bei einer Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen auf der Kirmes in Lüdenscheid, bei der mehrere Schüsse gefallen sein sollen, teils aus Schreckschusspistolen, aber eben auch mindestens ein Schuss aus einer scharfen Waffe. Diese Kugel durchschlug, so hieß es in Ermittlerkreisen, Magen, Zwerchfell und Milz des Opfers, das wohl verblutete, möglicherweise auch deshalb, weil in der unübersichtlichen Situation auf der Kirmes zunächst nicht klar war, dass und wie schwer der Mann getroffen worden war. Insgesamt sollen neun Hülsen am Tatort gefunden worden sein. Es hätte auch irgendeinen anderen Besucher auf dem Volksfest erwischen können, vielleicht sogar mehrere. Getroffen wurde Alnour Bakhit. Tödlich.

Der Prozess gegen den Angeklagten, der zum Tatzeitpunkt minderjährig war, findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In zwei Verhandlungspausen erzählt der Bruder des Getöteten, der wie seine beiden – beim Prozessstart nicht anwesenden – Neffen Nebenkläger ist, vor dem Gerichtssaal, dass sein Bruder „wie ein Vater“ für ihn gewesen sei, dass die Todesnachricht ihm den Boden unter den Füßen weggezogen habe, dass er sich an die Opferorganisation Weißer Ring gewandt und ärztliche Behandlung in Anspruch genommen habe, dass vor allem auch die Mutter leide, die im Sudan mit seiner jüngeren Schwester und dem Vater lebe.

Bruder überführte den Leichnam in den Sudan

Die Mutter habe ihren ältesten Sohn, der sich 2001 auf den Weg zunächst nach Lybien gemacht habe, gut 20 Jahre lang nicht gesehen. Als sie ihn dann wieder zu Gesicht bekam, war er tot. Beim Anblick des Leichnams, den er, Ahmed Bakhit, von Deutschland mit dem Flugzeug und dem Auto über Sudans Hauptstadt Khartum bis in das Heimatdorf der Familie in der Region Darfur im Westen des afrikanischen Landes überführt habe, sei die Mutter kollabiert. Monatelang habe sie in einem Krankenhaus bleiben müssen. Der plötzliche Tod des Sohnes habe die Mutter gezeichnet, sie verändert, sie sei nicht wiederzuerkennen. „Ich“, sagt Ahmed Bakhit, „habe nicht nur meinen Bruder verloren, sondern auch meine Mutter. Und für was? Für nix.“

In dem Satz zeigt sich die Verzweiflung, aber auch die Zufälligkeit dieses Todes, die dem Bruder des Getöteten zu schaffen macht. Ahmed Bakhits Stimme wird mitunter brüchig, er atmet tief ein, die Augen werden feucht. Er spricht im Beisein seines Anwalts über den „Schock“, der bis heute anhalte, er merkt an, dass sein Bruder doch nicht krank gewesen sei – und nun dennoch tot. Auch das verdeutlicht, wie plötzlich und wahllos der tödliche Vorfall über die Angehörigen hereingebrochen sein muss. „Mein Bruder“, sagt Ahmed Bakhit, „war alles für mich.“

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Zusammenbruch auf dem Polizeirevier

Vom Tod seines Bruders habe er vor zwei Jahren durch einen Anruf von dessen Chef erfahren, der ihn frühmorgens aus dem Bett gerissen habe. Ungläubig, fassungslos. Er sei dann in Köln-Ehrenfeld, wo er damals lebte, zur Polizei gegangen. Auf dem Revier hätte man ihn näher über den fatalen Vorfall informiert. „Es war ein Schock für mich, ich bin bewusstlos geworden, später im Krankenhaus aufgewacht“, erzählt Ahmed Bakhit.

Nun sei er aus Merseburg (in der Nähe von Halle und Leipzig), wo er seit diesem Semester studiere, nach Hagen gereist zum Prozessauftakt, weil er Gerechtigkeit wolle. Der Angeklagte soll, so berichten es Prozessteilnehmer nach dem ersten Verhandlungstag, zu den Vorwürfen geschwiegen, lediglich Angaben zu seiner Person gemacht haben. Seine beiden Verteidiger äußern sich auf Anfrage nicht, auch das Landgericht Hagen schweigt. Der Todesschuss fiel mitten in der Öffentlichkeit, aber der Prozess findet hinter verschlossenen Türen statt, zum Schutz des zum Tatzeitpunkt minderjährigen Angeklagten, erklärt das Landgericht.

Der 19 Jahre alte Angeklagte sitzt derzeit in einer Entziehungsanstalt. Er war im Februar 2023 in einem anderen Verfahren, das öffentlich stattgefunden hatte, zu einer fünfjährigen Jugendstrafe verurteilt worden. Dabei ging es um seine Beteiligung an einer Serie von teils bewaffneten Raubüberfällen. Zwei seiner Mitangeklagten in dem Raubverfahren sollen ihn beschuldigt haben, für den tödlichen Schuss auf der Kirmes in Lüdenscheid verantwortlich zu sein. Sollte der Angeklagte auch in diesem Prozess, in dem bis zum 21. Juni weitere 15 Verhandlungstermine angesetzt sind, verurteilt werden, könnten beide Urteile zu einer Einheitsjugendstrafe zusammengefasst werden. Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht beträgt zehn Jahre.