Hagen. Fast zehn Jahre Haft: Im Raubserien-Prozess muss ein „nerviger“ Angeklagter lange hinter Gitter. Seine Komplizen kommen etwas besser weg.
Das Comeback des Angeklagten, der mit seinem unheimlichen Auftreten vor Gericht an den Filmpsychopathen Hannibal Lecter erinnerte, dauerte nur wenige Minuten. Nachdem der 22-Jährige vor gut zwei Wochen wegen wiederholter Störmanöver vom Prozess ausgeschlossen worden war, durfte er zum Verfahrens-Finale am Donnerstag zurückkehren. Doch bevor zur Mittagszeit die Urteile gegen die brutale Jugendbande verkündet wurden, hatte der Syrer den Saal am Landgericht Hagen längst wieder verlassen müssen. Wegen erneuter Störung.
In Abwesenheit wurde also der junge Mann, der vor Gericht stets in Handschellen, Fußfesseln, mit Helm und Spuckschutz sowie fixiert an einen Rollstuhl und in Begleitung von einer Schar von Justizbeamten erschienen war, wegen seiner Beteiligung an der Serie von teils bewaffneten Raubüberfällen zu einer Haftstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das ist die höchste Strafe in diesem Prozess – in dem es eine Querverbindung zu dem tödlichen Schuss auf der Lüdenscheider Kirmes geben soll, der im Mai ein Zufallsopfer gefordert hatte. Dies ist Gegenstand einer separaten Ermittlung.
„Krankhaftes“ Verhalten nicht negativ gewertet
Der Raubserien-Prozess vor der 1. Großen Jugendstrafkammer hätte für den Auffälligsten der vier Angeklagten noch schlimmer enden können als mit neuneinhalb Jahren Haft. Das Gericht blieb jedoch unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, die zehn Jahre Gefängnis gefordert hatte. Der Vorsitzende Richter Jörg Weber-Schmitz attestierte dem Unruhestifter, den er von der Verhandlung ausgeschlossen hatte, sich „nervig“ und „anstrengend“ aufgeführt zu haben. Dies aber habe man nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet, weil das Verhalten „krankhaft“ sei. Der 22-Jährige soll sich in der Untersuchungshaft immer wieder selber verletzt, etwa den Kopf gegen die Wand geschlagen haben. Der nun Verurteilte, der erstmals im Gefängnis sitze, sei „in außerordentlicher Weise von der Haft belastet“, sagte Weber-Schmitz.
Die drei Komplizen kamen hingegen glimpflicher davon; ein 23-jähriger Syrer wurde zu einer Haftstrafe von vier Jahren und zwei Monaten verurteilt, sein jüngerer – vorbestrafter – Bruder und ein Marokkaner (beide 18) erhielten Jugendstrafen von dreieinhalb beziehungsweise fünf Jahren.
Das Quartett, das sich im Laufe des zweimonatigen Prozess geständig gezeigt hatte, hatte zwischen Januar und Juni 2022 in Lüdenscheid, Hagen und andernorts in unterschiedlicher Besetzung mehrere Überfälle durchgeführt. Beute: gut 16.000 Euro. Die Taten wurden zum Teil gewaltsam und mit Messern und Schreckschusswaffen durchgeführt. So wurde laut Aussage einer Polizistin etwa ein über 80 Jahre alter Arzt gleich dreimal heimgesucht und dabei derart zugerichtet, dass der Mediziner heute nicht mehr praktizieren könne. Ein anderes Mal, das belegten Videos einer Überwachungskamera, wurde ein Kioskbetreiber übel verprügelt. Tatorte waren auch eine Fast-Food-Filiale, ein Juweliergeschäft oder eine Spielhalle.
Tod auf der Kirmes: Angeklagter wird von Komplizen belastet
Mit der Urteilsverkündung ist dieser Fall (vorbehaltlicher einer Revision) abgeschlossen. Das Verfahren zu dem tödlichen Zwischenfall auf der Lüdenscheider Kirmes läuft hingegen noch. Vor neun Monaten waren bei einem Streit auf dem Fest mehrere Schüsse gefallen – wohl im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe junger Männer im Alter zwischen 16 und 20 Jahren mit einem Jugendlichen, der seinen Vater zu Hilfe rief. Eine Kugel erwischte damals einen unbeteiligten 40-Jährigen im Bauch, durchschlug, so heißt es, Magen, Zwerchfell und Milz. Das Zufallsopfer – ein Asylbewerber aus dem Sudan – verblutete wohl, möglicherweise auch deshalb, weil in der unübersichtlichen Situation zunächst nicht klar war, dass und wie schwer der Mann getroffen worden war. Insgesamt wurden neun Hülsen am Tatort gefunden. Dass es damals unter den Kirmesbesuchern keine weiteren Opfer gab, war wohl pures Glück.
Einer der nun wegen der Raubserie verurteilten jungen Männer, der 18-jährige Marokkaner, wird aus den Reihen seiner Mitangeklagten beschuldigt, im Mai den fatalen Schuss auf der Kirmes abgegeben zu haben. Am Mittwoch, dem vorletzten Verhandlungstag im Raubserien-Prozess, hatte eine Polizistin ausgesagt, dass man durch die Aufklärungshilfe eines der beiden syrischen Brüder in einem anderen Verfahren eine bislang unbekannte Person habe ermitteln können, bei der eine scharfe Schusswaffe, Bargeld und Drogen gefunden worden seien.
Was dies für den Kirmesfall bedeutet, bleibt abzuwarten. Zu einer Anklage ist es noch nicht gekommen. Die umfangreichen Ermittlungen ziehen sich, wohl auch wegen eines personellen Wechsels bei der Hagener Staatsanwaltschaft. Offen ist auch, ob die nun gefundene Waffe die Tatwaffe des tödlichen Kirmesvorfalls ist. Diese Fragen waren nicht Gegenstand des Raubserien-Prozesses.