Nachrodt-Wiblingwerde. Die gesperrte B 236 hinterlässt zwei Sackgassen in Nachrodt-Wiblingwerde. Menschen müssen nun um ihre Existenz fürchten.

Am Morgen hat Mahmut Sisman als erstes auf den Kontoauszug geguckt. Freitag, 1. Februar, neuer Monat. Eine Woche ist vergangen, seit die Lennebrücke gesperrt wurde. „Alle haben schon ihr Geld abgebucht, natürlich“, sagt er. Nicht, dass er es anders erwartet hätte. Ist ja logisch. Ist ja eigentlich auch kein Problem. Zumindest, solange Sisman Einnahmen hat. „80 Prozent fehlen“, sagt er.

Die Orangen und Mandarinen, Quitten und Granatäpfel, Kokosnüsse und Kakis hat er wie jeden Tag vor den Laden in die Auslage geräumt. 50 Meter entfernt liegen sie von den rot-weißen Barken, mit denen die einsturzgefährdete Brücke entlang der Bundesstraße 236 in Nachrodt-Wiblingwerde versperrt ist. Die pulsierende Verkehrsader - durchtrennt. Eine Alternativroute zur ebenfalls gesperrten Autobahn 45 - von jetzt auf gleich dicht.

Besuch an einem Ort, der seit einer Woche zu gespenstischer, fast unheimlicher Stille gezwungen ist.

Ladenbesitzer: Vielleicht kein Urlaub in diesem Jahr für die Kinder

Mahmut Sisman hat den Laden seit 24 Jahren. In aller Frühe fährt er zum Markt nach Gelsenkirchen, wählt aus, was er seinen Kunden anbieten will. 16, 17 Stunden am Tag kümmere er sich um den Laden, sagt er. Ein Mädchen kommt herein, kauft Lutscher. 60 Cent. „Katastrophe“, sagt Sisman über die gesperrte Brücke, von der jeder wusste, dass sie längst in Mitleidenschaft gezogen ist.

Wie lang geht das dann gut? Wann kommt das nächste?
Ralf Peter Meier, Tankstellenbesitzer in Nachrodt-Wiblingwerde

Normalerweise fahren hier freitagnachmittags Tausende Autos entlang. Jetzt: keines. „Ich muss meine Rechnungen bezahlen“, sagt er und zieht die Schultern hoch. Abgebucht wird eben immer. „Aber Hilfe bekommen wir von nirgendwo.“ Zwei, drei Wochen soll die Sperrung aufrechterhalten bleiben. Eine Not-Instandsetzung soll die Brücke stabilisieren, die ersten Arbeiten haben schon stattgefunden. „Wenn es wirklich nur so lange dauert, dann schaffe ich das. Ansonsten muss ich den Laden zumachen“, sagt Sisman. Seiner Frau und den beiden Kindern hat er schon gesagt, dass dieses Jahr vielleicht kein Urlaub drin sein wird.

Nebenan, noch etwas näher zur Brücke hin, hat Elsoy Öztürk seinen Döner-Imbiss. Er blickt aus dem Fenster. „Tote Hose“, sagt er. Keine hungrigen Pendler. Für gewöhnlich liefert er das Essen auch aus, bis nach Grüne, Letmathe und Iserlohn. Ein paar Minuten waren das immer mit dem Auto. Doch die Umwege jetzt - mindestens eine halbe Stunde pro Fahrt - wären immens und unwirtschaftlich. Er schaut auf den Kalender an der Wand, fährt mit dem Finger erst über das Datum der Sperrung, dann auf Mitte Februar. „Zwei, drei Wochen“, sagt er, „sonst ist Schluss, keine Chance.“

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Zwei Damen stehen einige Hundert Meter von der Brücke entfernt wartend an der Straße, auf der niemand mehr fährt. Eine davon ist Andrea Bäcker. Zwei Einkaufstüten hat sie am langen Arm. Sie wohnt diesseits der Brücke, arbeitet aber jenseits. „Mein Auto lasse ich auf der anderen Seite. Meine Tochter holt mich hier gleich ab“, sagt sie. Eine Behelfsbrücke, die von schwimmenden Booten getragen wird, war quasi über Nacht gebaut worden, damit wenigstens Fußgänger zwischen den Welten pendeln können. Immerhin. Trotzdem fühlt sich das komisch an. „Wie im 19. Jahrhundert“, sagt Andrea Bäcker.

Oberhalb der Behelfsbrücke sitzt ein älterer Herr auf einer Bank und schaut dem Pendelverkehr der Fußgänger zu. „Hier können sich ja bald Paare die Liebe schwören“, dröhnt er einem Zuhörer entgegen. Wie an der Hohenzollernbrücke in Köln, wo Tausende Schlösser am Gitter befestigt sind. Die Liebe für das Provisorium ist nur ein Behelf. Der Galgenhumor auch.

Eltern organisieren Gruppenabholungen in der Kita

„Man muss täglich mehr Zeit einplanen“, sagt Diana Kriebel, Mama in Elternzeit. Sie kommt gerade aus der Kita, schiebt einen Kinderwagen und hat Söhnchen Marius auf dem Arm. Sie balanciert sich und alles andere die steile Behelfsbrücke hinab. „Wenn ich ihn mit dem Auto wegbringe und abhole, bin ich sicher zwei Stunden unterwegs.“ Der Parkplatz, der extra an der Behelfsbrücke eingerichtet worden ist, sei oft voll. Sie gehe daher lieber zu Fuß: 45 Minuten. In der Kita, sagt sie, hängen jetzt Zettel am Schwarzen Brett. Eltern bilden Schicksalsgemeinschaften und wechseln sich mit Abholung der lieben Kleinen ab. Geteilter Ort, geteiltes Leid.

Zwei Supermärkte sind auf der einen Seite, auf der anderen keiner, der gut zu Fuß erreichbar wäre. Die Pendler, die Richtung Altena müssen, parken ihre Autos in langen Schlangen am Fahrbahnrand. Ansonsten: gespenstische Stille. Einziges Geräusch: Blätter, die vom Wind über den Gehweg getrieben werden. Und in der Ferne ein Baustellenradio. WDR aktuell. Staumeldungen. „Wegen der gesperrten A45 bei Lüdenscheid brauchen Sie eine Stunde länger.“ Vielleicht auch, weil die Ausweichroute durch Nachrodt-Wiblingwerde dicht ist. Verkehrsinfarkt in Südwestfalen.

„So leer auf der Straße war es zuletzt im Lockdown“, sagt Christiane Schauerte, die einen Lotto-Toto-Laden mit Postannahmestelle an der B236 betreibt. „So wie es jetzt ist, reicht es nicht zum Überleben.“ Viele Stammkunden hätte sie, die trotzdem weiterhin kämen und den beschwerlicheren Weg auf sich nähmen. „Das rührt mich sehr.“ Aber die Öffnungszeiten hat sie schon verkürzt: Dienstags und donnerstags wird der Laden nach der Mittagspause nicht wieder aufgemacht. Zwei Aushilfen, die sonst mitarbeiten müssen, weil viel Arbeit anfällt, arbeiten derzeit gar nicht.

Leben mit der Ungewissheit: Wann kommt das nächste?

„Ich war zwar gerade in Iserlohn, aber ich bin extra zu dir zum Tanken gekommen“, dröhnt ein Stammkunde durch die Tankstelle von Ralf Peter Meier. Der Chef lächelt. Ihn hat es hier von den kleinen Gewerbetreibenden mit am ärgsten getroffen. „Wir leben von der Straße“, sagt er, während draußen mal wieder kein Auto fährt. 70 Prozent Umsatzrückgang, schätzt er.

Die Regale, in denen sonst belegte Brötchen liegen, sind leer. Abbestellt. Kauft keiner mehr. Die Öffnungszeiten? Stark gekürzt. Statt täglich von 5 bis 21 Uhr macht Meier von 8 bis 19 Uhr auf, sonntags bleibt gleich ganz geschlossen. Mitarbeiter, die auf 520-Euro-Basis jobben, kommen nicht mehr auf ihre Stunden. „Ohne Vorankündigung, von jetzt auf gleich wurde die Straße gesperrt - und keiner kann verlässlich sagen, wie lang das so gehen wird“, sagt Meier. Er hofft, dass es bei zwei, drei Wochen Sperrung bleibt. Aber die Ungewissheit, die sitzt ihm im Nacken. „Wie lang“, fragt er, „wie lang geht das dann gut? Wann kommt das nächste?“