Soest. Sie ist 20, als sie ihn das erste Mal sieht. Lange verheimlichen sie ihre Liaison – aus Angst. Als die Kinder kommen, ist er Ende 70.
An das Datum, an dem sie sich das erste Mal trafen, erinnern sich beide sofort: 3. Januar 1998. Sie war damals 20 Jahre alt, Auszubildende bei der Bank. Er 63, Versicherungsbranche, kurz vor der Rente. Er wollte sie sprechen wegen des Tennisklubs, Vorstandsarbeit. Sie tranken Tee, sprachen anderthalb Stunden. Er half ihr in den Mantel. Alte Schule.
„Dann ging er links aus dem Café, ich rechts. Ich schaute ihm nach und dachte: Den heiratest du mal“, erinnert sich Ivonne Mahler (46) heute – und schmunzelt über die Selbstverständlichkeit, mit der sie das dachte. Tatsächlich ist Wilfried Mahler heute ihr Mann. Geheiratet haben sie 2011. Zusammen haben die beiden zwei Kinder: Valentin (11) und Mira (9).
43 Jahre Altersunterschied: „Was sagen bloß die anderen?“
Aber zwischen damals und heute liegen Jahre des Zweifelns – und ein Leben im Geheimen. Ivonne Mahler kann dieses Gefühl sofort wiederbeleben, zu lange begleitete es sie. Es resultierte aus einer Frage und der Antwort, die sie sich selbst gab: „Was sagen nur die anderen? Was wir hier machen, ist doch falsch, das geht doch nicht.“
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Am Tag nach dem ersten Treffen sagte sie die Vorstandsarbeit bei Blau-Weiß Soest zu. Die beiden trafen sich monatlich bei den Sitzungen. „Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick. Ich habe jede Gelegenheit genutzt, in seiner Nähe zu sein“, sagt sie. Arbeitseinsatz auf dem Klubgelände, Vereinsfeierlichkeiten, sowas. Er blickt etwas nüchterner zurück: „Ich habe ein bisschen gebraucht, bis da mehr war als Vorstandsempfindungen.“ Sie lud ihn irgendwann zum Kuchenessen ein. Damit – könnte man sagen – beginnt das Gefühlschaos: die Liebe, das Hadern, beginnen die Freuden, die Qualen und die Kompliziertheiten. Bei beiden, aber unterschiedlich ausgeprägt.
Er zweifelt, weil der das Gefühl hat, für ihr Leben mitverantwortlich zu sein
Wilfried Mahler ist damals schon Witwer, nur eines seiner drei Kinder aus erster Ehe lebt noch, seine Eltern sind verstorben. Und die Gesellschaft? „Ich schere mich eher weniger darum, was andere sagen. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“ Einerseits. Andererseits plagen auch ihn Zweifel: „Als der deutlich ältere von uns beiden hatte ich das Gefühl, in der Situation die größere Verantwortung zu tragen – auch für ihr Leben.“ Er wägt ab, fragt sich: „Soll ich, kann ich dem nachgeben? Das war eine Phase, die eine ganze Zeit dauerte.“
Insgesamt mehr als zehn Jahre lang wächst da etwas, von dem niemand etwas mitbekommen soll, mitbekommen darf. Er war beruflich viel in Hannover, sie studierte irgendwann BWL in Mainz. „Wir haben uns viel in den abgelegensten Hotels getroffen. Mal hier, mal dort. Wir sind kein Risiko eingegangen, haben immer separat gefrühstückt. Und wenn ich montags gefragt wurde, was ich am Wochenende gemacht habe, habe ich gelogen“, sagt Ivonne Mahler. Verstecken. Auf der Hut sein. „Ich habe jahrelang im Untergrund gelebt, bis ich fast nicht mehr atmen konnte.“ Einer einzigen Freundin vertraute sie ihren Schmerz und ihr Glück an.
Typisches Klischee: Junge Frau sucht sich älteren, gut situierten Herrn?
43 Jahre trennen Wilfried und Ivonne Mahler – ein halbes Leben. Zu viel, als dass sie das normal finden konnten. Zu viel, als dass es leicht gewesen wäre. Aber nicht genug, um es zu verhindern. „Der Verstand hat uns lange gesteuert, doch es fühlte sich so gut an“, sagt Ivonne Mahler.
2005 kehrt sie aus einem Auslandsjahr zurück. Die erste Nacht in Deutschland verbringt sie direkt bei ihm. „Von da an war alles noch intensiver“, sagt Ivonne Mahler. Aber die Zweifel blieben. Eine junge Frau und ein so deutlich älterer Mann? Einer, der gut situiert ist. „Das passte natürlich auch noch in die Erzählung, so richtig wie das Klischee“, sagt sie. „Aber als wir uns trafen, kannte ich ihn gar nicht. Wenn man sich einen reichen Typen angeln will, fährt man nach St. Moritz und setzt sich abends an die Hotelbar.“
Für beide – so schildern sie es – wird immer klarer, dass es so nicht mehr weitergeht, dass sie es entweder ganz wollen oder gar nicht. Sie versuchen es erst mit gar nicht. Zwei Wochen sehen sie sich nicht. Dann merken sie: Das geht nicht. „2009 war das, als uns klar wurde, wie es weitergehen soll. Dass wir heiraten und eine Familie gründen wollen“, sagt Ivonne Mahler. Ihre Familien müssen es erfahren.
„Ich wusste nicht, wie sie es aufnehmen würde“, sagt Wilfried Mahler. Seine Tochter ist älter als seine neue Frau. „Das ist etwas, von dem man sich vorstellen kann, dass sich das vielleicht merkwürdig anfühlt. Aber sie hat es gut aufgenommen. Sie hat es verstanden, dass ich wieder eine Verbindung zu jemandem haben wollte, dass ich wieder eine Heimat finden wollte nach dem Tod meiner Frau.“
Ivonne Mahler sagt es ihrer Mutter und ihrem Vater nicht gleichzeitig. „Für Papa war das eigentlich ganz entspannt. Mama hat etwas gebraucht, um zu akzeptieren, dass ihr Schwiegersohn älter ist als sie.“ Aber das habe sich auch schnell wieder gelegt, weil die Sache von weiteren Fakten umrahmt wurde: Heirat 2011, Geburt von Valentin 2012, Geburt von Mira 2014. Enkelkinder, die ersten, die einzigen. „Ich glaube, für alle Mamis und Papis ist es das Wichtigste, dass die eigenen Kinder glücklich sind. Sie haben schnell gemerkt: Das ist total crazy, aber es passt alles. Ihr Verhältnis zu meinem Mann ist heute blendend.“
Mit Ende 70 noch Kinder in die Welt setzen: Ist das verantwortungsbewusst?
Wie normal kann dieses Leben sein? Wie verantwortungsbewusst ist es, Kinder in die Welt zu setzen, wenn statistisch das Risiko stark erhöht ist, dass der Vater die Einschulung, den Wechsel auf die weiterführende Schule oder den Abi-Ball nicht mehr erlebt?
„Natürlich haben wir das besprochen“, sagt Ivonne Mahler. Aber Gewissheiten gebe es im Leben nun einmal nicht. Abgesehen von Wahrscheinlichkeiten ahne niemand, wie viel Zeit ihm oder ihr bleibe. Zu wissen, dass diese Zeit endlich ist, habe aber einen anderen Effekt: „Wir genießen unser gemeinsames Leben, wir verplempern unsere Zeit nicht“, sagt sie.
Wilfried Mahler spielt immer noch Tennis. 2021 führte er die deutsche Mannschaft in der Altersklasse Ü85 auf Mallorca zum Weltmeistertitel. In den Stunden auf dem Platz damals ruinierte er sich die Knie, das zweite künstliche Gelenk hat er gerade eingesetzt bekommen. Er gedenkt, wieder zu spielen.
„Ich habe früher viel gearbeitet und konnte nicht so für ersten drei Kinder da sein“, sagt er. Nun habe er Zeit, keinen Stress. Er sei mit im Kreißsaal gewesen, habe die Kinder aus dem Kindergarten abgeholt, gehe mit zum Elternabend in der Schule. „Ich muss zugeben: Zwei kleine Kinder sind in meinem Alter auch manchmal anstrengend, wenn sie wild und laut sind.“ Seine Frau gönne ihm immer wieder auch Rückzugsmomente. „Diese Phase ist die glücklichste Zeit meines Lebens und ein Geschenk.“ Er fragt zurück: „Ist es nicht besser, 15 Jahre lang wirklich da zu sein, statt ein halbes Leben lang nur halb?“
Im Kindergarten habe mal eine Mutter gefragt, ob Valentin heute vom Opa abgeholt würde. „Nein, das ist Papa“, habe Valentin gesagt. Und sonst? Gibt es da einen Unterschied zwischen Mama und Papa? „Bei Papa dürfen wir etwas mehr“, sagt Valentin und grinst. „Papa ist immer da“, sagt Mira.
In der Öffentlichkeit immer das Gefühl, beobachtet zu werden
Die ersten Male, als sie sich als Paar in die Öffentlichkeit traute, habe sich das merkwürdig angefühlt. „Das war ganz komisch. Wir haben uns immer umgeschaut und gedacht, dass alle auf uns blicken“, sagt Ivonne Mahler. Seitdem sie nicht mehr gucken, ob jemand guckt, fühlt sich alles völlig normal an. „Wir haben keine negativen Reaktionen erfahren. Nicht von Freunden, nicht von Bekannten, nicht im Kindergarten und nicht in der Schule“, sagt er.
Ivonne Mahler ist mittlerweile studierte Alterswissenschaftlerin. Sie sagt, das Alter sei laut Weltgesundheitsorganisation das am weitesten verbreitete und am meisten akzeptierte Diskriminierungsmerkmal. Sie hat sich aus dem Untergrund an die Oberfläche gewagt – und traut sich erst seit Kurzem auch, dort aufrecht und selbstbewusst zu stehen. „Vielleicht“, sagt sie, „tuschelt der eine oder andere hinter unserem Rücken über uns.“ Doch die Zeiten, in denen ihr der Gedanke etwas ausmacht, sind längst vorbei.