Nachrodt-Wiblingwerde. In Südwestfalen ist die nächste Brücke marode: Die Vollsperrung der wichtigen A45-Ausweichroute wiegt für die Menschen vor Ort schwer.

Als der Bagger den letzten großen Betonblock als Absperrung auf die Straße hievt, steht Kristian Schneider daneben und schüttelt den Kopf. „Wie soll ich die Kinder in die Schule bekommen?“, fragt er. 16.59 Uhr ist es am Freitagnachmittag. An dem Tag, an dem die nächste kleine, aber zentrale Brücke in Südwestfalen gesperrt wird - wegen akuter Einsturzgefahr. Die Brücke der Bundestraße 236 verband Nachrodt und Wiblingwerde. Nun sind die Orte getrennt. „Wie Ost und West früher“, sagt Schneider und weiß offenbar nicht, ob er über seinen Scherz lachen soll.

Lustig ist das alles nämlich nicht so recht. Denn es gibt keinen Trampelpfad, keinen Waldweg, keine Hängebrücke, die benutzt werden könnte, um irgendwo in der Nähe über die Lenne zu gelangen. „Soll ich das Paddelboot rausholen“, fragt Schneider. Seine Kinder sind fünf und acht Jahre alt. Über die Brücke müssten sie, um in die Grundschule und den Kindergarten zu gelangen. Doch die ist jetzt gesperrt: für Lkw, Autos, Fahrradfahrer, sogar Fußgänger. Die offizielle Ausweichstrecke, die Schneider nutzen könnte, führt über den Ortsteil Ihmert. Ein riesiger Umweg, den ab Montag auch alle nutzen müssen. 45 Minuten mindestens. Und zwar: ein Weg.

Taucher stellen massive Schäden am Fundament fest

Ursache für diesen drastischen Schritt sind nach Angaben von Straßen-NRW neue Schäden im Fundament- und Pfeilerbereich, die von Tauchern entdeckt wurden. „Nachdem die Taucher am Donnerstag die massiven Schäden entdeckt hatten, haben unsere Experten am Freitagvormittag gerechnet und intensiv beraten“, erläutert Sprecher Andreas Berg. Schnell sei man zu dem Schluss gekommen, dass man die Brücke trotz ihrer zentralen Bedeutung komplett sperren müsse: „Die Schäden sind so massiv, dass die Brücke einzustürzen droht, wenn weiter Fahrzeuge darüber fahren. Es besteht aber auch die Gefahr, dass sie durch ihr Eigengewicht kollabiert. Daher dürfen auch keine Fußgänger mehr über die Brücke gehen.“

Seit Dezember 2021 ist die Autobahn 45 - eine wichtige Nord-Süd-Verbindung im Bundesgebiet - gesperrt. Damals waren Schäden an der Talbrücke Rahmede in Lüdenscheid festgestellt worden, die zum Einsturz des Bauwerks hätten führen können. Die Bundesstraße 236 ist eine Ausweichroute zur A45 - nutzbar aber lediglich für Kraftfahrzeuge bis 3,5 Tonnen, weil ein paar Kilometer von Nachrodt-Wiblingwerde entfernt eine weitere Brücke bereits kaputtgefahren ist und die Belastungen von Lkw nicht mehr trägt. Die nun gesperrte Lennebrücke war ebenfalls bereits als Problemfall bekannt - und nur noch einspurig befahrbar. Das ist ja, was die Menschen vor Ort so wütend macht.

„Es ist menschenunwürdig, was mit uns gemacht wird.“
Nadja Pramann, Anwohnerin an der Lennebrücke in Nachrodt-Wiblingwerde

Kristian Schneider, der Familienvater, hörte die Meldung mittags in den Nachrichten. Er rief seine Frau an, dass sie die Kinder schnell abholen müsse, bevor die Brücke gesperrt werde. Er versuchte es nach eigenen Angaben bei der Polizei und bei Straßen-NRW, um Informationen zu erhalten. Er ist zur Brücke gekommen in der Hoffnung, dass jemand vom Ordnungsamt da ist, der ihm helfen kann. Von der Schule hat er auch noch nichts gehört. Schneider wohnt in Nachrodt. Jenseits der Brücke ist der Supermarkt, der Bäcker, die Tankstelle, der türkische Imbiss, der Arzt. „Immerhin haben wir auch eine Pizzeria auf unserer Seite.“ Galgenhumor.

Schneider ist nicht der Einzige, der zur Brücke gekommen ist. Es ist, als wollten die Anwohner der 6700-Einwohner-Gemeinde mit eigenen Augen sehen, was sie eigentlich nicht für möglich hielten. Heike Klau arbeitet in dem Supermarkt auf der anderen Seite. Sie fährt früh morgens immer mit dem Bus. Sieben Minuten. Wie das demnächst ist, weiß sie nicht. „Ich bin richtig wütend, weil die doch schon so lange wissen, dass die Brücke kaputt ist“, sagt sie. „Zehn Jahre bestimmt.“ Die Leute um sie herum nicken. Oder sagen: „Ach was! Schon länger!“

Weg versperrt: Viele Autofahrer waren am Freitagnachmittag gezwungen, an der kurzfristig gesperrten Brücke wieder umzudrehen.  
Weg versperrt: Viele Autofahrer waren am Freitagnachmittag gezwungen, an der kurzfristig gesperrten Brücke wieder umzudrehen.   © Zentrale | Daniel Berg

Immerhin: Andreas Berg, der Mann von Straßen-NRW, macht vorsichtig Hoffnung, dass der Zustand nicht lange anhalten werde. „Die Baufirma will am Montag mit den Stabilisierungsarbeiten beginnen. Wenn alles gut läuft, könnte die Brücke binnen einer Woche wieder soweit sein, dass sie befahrbar sein wird.“ Doch dazu müssten auch die äußeren Bedingungen stimmen. Sprich: das Lenne-Hochwasser darf nicht weiter steigen. Und es darf nicht entscheidend kälter werden. „Sonst können die Beton-Arbeiten nicht durchgeführt werden.“

Wann neu gebaut wird? Steht noch nicht fest

Ob das Drama wirklich nur eine Woche währt? Die Menschen an der Brücke haben Zweifel. Sie verstehen nicht, dass noch nichts getan wurde. Sie verstehen nicht, wie am Freitagnachmittag noch Lastwagen über die Brücke fahren - und wenige Stunden später nicht einmal mehr Fußgänger hinüber dürfen. „Es ist menschenunwürdig, was mit uns gemacht wird“, sagt Naja Pramann. Von ihrem Balkon aus blickt sie auf die Brücke. Seit fast 50 Jahren lebe sie in Nachrodt. „Früher war es schön hier.“ Aber jetzt? „Es macht bald keinen Spaß mehr.“

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„Das Planfeststellungsverfahren für den Neubau der Brücke läuft“, sagt Andreas Berg. Allerdings sei noch nicht absehbar, wann tatsächlich gebaut werden könne. Daher sollten bereits Ende des vergangenen Jahres Arbeiten zur Stabilisierung der Brücke starten. Die seien dann aber wegen des Lenne-Hochwassers vor Weihnachten verschoben worden. Jetzt starteten sie mit Verspätung - und die Taucher der beauftragten Baufirma fanden die massiven Schäden.

„Es war doch fast absehbar, dass das passieren wird“, sagt Sabrina Klippert. Sie kann diesseits der Brücke zu Fuß zur Arbeit gehen. Aber vorher die Kinder zur Schule bringen? Unmöglich, sagt sie. „Man fühlt sich gegen die Wand gefahren.“