Hagen. Eltern sind oft Chauffeure ihres Nachwuchses, sagt Prof. Joachim Scheiner. Welcher Eltern-Typus das macht - und was das auslösen kann.

Eltern-Taxi, Helikopter-Eltern – hübsche Worte gibt es, um zu beschreiben, wie Eltern ihre Kinder heutzutage hofieren, chauffieren, beglucken. Doch dass sie ihrem Nachwuchs damit womöglich keinen Gefallen tun, blenden viele aus. Professor Joachim Scheiner (59) forscht an der TU Dortmund zur Mobilität von Kindern – und den Folgen der elterlichen Rund-um-Versorgung.

Die Mobilität von Kindern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert, sagen Sie. Was heißt das konkret?

Was ich beobachte und was sich wissenschaftlich belegen lässt, ist, dass Kinder viel mehr als früher Wege mit dem Auto zurücklegen und weniger zu Fuß oder mit dem Fahrrad – zum Beispiel auf dem Weg zur Schule. Die schiere Erlaubnis, ohne elterliche Begleitung zur Schule zu gehen, hat sich im Schnitt um ein Jahr nach hinten verschoben: früher durften das die Kinder mit sieben Jahren, heute erst mit acht. Untersuchungen zeigen, dass der Anteil der Kinder, die mit dem Auto zur Grundschule gefahren werden, von 8 Prozent im Jahre 1990 auf 23 Prozent in 2010 angestiegen ist. Unsere Befragung an Schulen in Dortmund und Lünen im Jahre 2020 ergab sogar einen Wert von 35 Prozent.

Beschränken sich diese Beobachtungen auf Schulwege?

Keineswegs. Räume, in denen sich Kinder überhaupt aufhalten zum Spielen, sind verloren gegangen beziehungsweise haben ihre Funktion verändert. Öffentlicher Raum in Städten ist heute zumeist Straßenraum. Bis in die 70er und 80er Jahre war die Straße ein Ort des Begegnens, heute dient sie fast ausnahmslos der Fortbewegung. Kinder bewegen sich auf eingehegten Flächen wie Spielplätzen, Trampolin- oder Kletterhallen - getrennt vom Rest der Gesellschaft.

Das soll schlecht sein?

Wer früher auf dem Garagenhof Fußball gespielt hat, musste sich zwangsläufig mit anderen Leuten auseinandersetzen, wenn man zu laut war oder wieder das Garagentor des Nachbarn getroffen hatte, der immer schimpfte und im schlimmsten Fall den Ball konfiszierte. Man lernte zum Beispiel, dass man sich nicht alles erlauben darf, dass man Rücksicht nehmen muss.

„Früher hatte man seine Kinder nicht weniger lieb, aber es war schlichtweg zeitlich nicht möglich, sie alle derart zu beglücken und beglucken, wie es heute oft getan wird.“
Prof. Joachim Scheiner

Welche Folgen hat es, dass sich die Mobilität der Kinder so verändert hat?

Die Entwicklung der Kinder verzögert sich, wenn sie solche Grundkompetenzen nicht lernen. Es führt dazu, dass sie weniger selbständig sind, dass sie ihre Umwelt verspätet erkunden, dass sie einen eingeschränkten Aktionsraum haben und ihr Viertel und die Gleichaltrigen, die dort wohnen, weniger gut kennen. Wenn aber die Orientierung im direkten Wohnumfeld fehlt, dann können Kinder nicht allein zu Freund oder Freundin gehen oder Eier im Supermarkt einkaufen gehen. Und damit wiederum nehmen wir den Kindern die Erfahrung weg: Ich kann was!

Was noch?

Naheliegend sind gesundheitliche Auswirkungen: Kinder können dick werden und haben motorische Defizite, wenn sie weniger Wege selbständig zurücklegen. Ich bin kein Mediziner, aber es liegt auf der Hand, dass Folgewirkungen wie Herz- und Kreislauferkrankungen, Fettleibigkeit und Diabetes möglich sind.

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Warum behüten Eltern ihre Kinder dermaßen?

Im Gegensatz zu früher haben Eltern heutzutage oft nur ein Kind, auf das sich die gesamte Aufmerksamkeit kapriziert – und um das sich alle Sorgen ranken. Früher hatte man seine Kinder nicht weniger lieb, aber es war schlichtweg zeitlich nicht möglich, sie alle derart zu beglücken und beglucken, wie es heute oft getan wird. Hinzu kommt: Es war nicht unüblich, dass Haushalte ohne Auto auskamen.

Welche Sorgen bewegen Eltern konkret, ihre Kinder in die Schule zu fahren?

Zunächst ist da vor allem die Angst vor dem fremden Erwachsenen, der sich das Kind greift. Es gibt aber auch eine diffuse Angst, die sich gegen nichts Spezielles richtet. Auch das Vertrauen von Menschen in andere Verkehrsteilnehmer ist unterschiedlich ausgeprägt.

Ist es ein bestimmter Eltern-Typus, der die Kinder zur Schule fährt?

Vornehmlich sind es Eltern mit höherem sozialen Status. Das mag daran liegen, dass sie besonderen Wert darauf legen, ihre Kinder auf die aus ihrer Sicht beste Schule zu schicken, die nicht zwingend die nächstgelegene ist, was wiederum die Fahrt mit dem Auto wahrscheinlicher macht. Die freie Schulwahl in NRW macht es möglich. So wachsen manche Kinder – böswillig formuliert – in Bullerbü auf, die anderen müssen nehmen, was übrig bleibt.

Sie forschen an der Fakultät für Raumplanung mit dem Schwerpunkt Stadtentwicklung. Wie lassen sich die Ergebnisse in Maßnahmen ummünzen?

Der demografische Wandel bringt mit sich, dass wir immer weniger Kinder haben. Trotzdem wäre es wünschenswert, wenn auch nachlassend frequentierte Schulstandorte nicht aufgegeben würden, um Wege kurz zu halten. Zudem hat die Gestaltung des Straßennetzes großen Einfluss auf die Entscheidung der Eltern: geregelte Ampeln bieten mehr Sicherheit als Zebrastreifen, durch bewohnte Gebiete lassen Eltern ihre Kinder mit besserem Gefühl gehen.

Was lässt sich organisatorisch noch tun, um die Situation positiv zu verändern?

Es gibt in Deutschland eine Vielzahl von Konzepten zur Förderung der selbstständigen beziehungsweise nichtmotorisierten Mobilität von Kindern. Es gibt in manchen Städten Sicherheits- oder Kinderbeauftragte. In Dortmund gibt es einen Beirat Nahmobilität, der die Dinge aus der Kinderperspektive betrachtet. Zum Beispiel gibt es dort auch sogenannte Walking Busses.

Was ist das?

Ein Elternteil zieht mit seinem Kind los und holt andere Kinder aus der Nachbarschaft ab, so dass ein laufender Bus entsteht. So führt man die Kinder an den Schulweg heran. Der „Leitfaden Elterntaxi“ des ADAC von 2018 empfiehlt die Einrichtung von Hol- und Bringzonen in wenigen hundert Metern Entfernung von der Schule mit dem Ziel, die Verkehrssituation vor den Schulen zu entspannen, damit die Kinder zumindest ein kleines Stück des Weges zu Fuß bewältigen.

Das Thema emotionalisiert durchaus. Stellen Sie das bei Ihrer Arbeit fest?

Bei unseren Untersuchungen zuletzt in Dortmund hatten wir überdurchschnittlich viele Eltern, die freiwillig mitgemacht haben. Daran merkt man schon: Das Thema brennt ihnen unter den Nägeln. Andererseits werden Kinder und der Umgang mit ihnen als Privatsache betrachtet und mögliche Hinweise als übergriffig. Das Thema polarisiert schnell: wie Politik oder Religion.