Essen. Die Hartz-Gesetze waren richtig. Das sagt der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering im Interview mit der WAZ. Außerdem übt er Kritik an den Führungsqualitäten von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Wirtschaftskrise und versucht, das jüngste Wahldebakel der SPD zu erklären.

Was ist der SPD am Wahlsonntag passiert?

Franz Müntefering: Die SPD-orientierten Wähler waren deutlich weniger mobilisiert als die konservativen. Das haben uns die Institute am Mittwoch noch einmal bestätigt. Das ist schon bei der Europawahl 2004 so gewesen. Vielleicht glauben unsere Wähler nicht so sehr an den Zusammenhang zwischen europäischer und nationaler Politik und werten deshalb Europawahlen als weniger wichtig. Aber am letzten Sonntag lag die Wahlbeteiligung bei 43 Prozent. Bei der Bundestagswahl wird sie bei 75 bis 80 Prozent liegen. Da steckt für uns eine ganze Menge drin. Das ist keine sichere Bank. Aber wir haben gute Chancen.

Behalten die Sozialdemokraten ihren Kurs bei?

Müntefering: Ja. Es ist richtig, mehr für Bildung zu tun und mehr für Integration und vor allem, eine Antwort auf die Krise zu geben. Wir müssen retten, was zu retten ist. Arbeitsplätze, Spareinlagen, Banken und Unternehmen. Und wir müssen was tun, damit so etwas nicht noch einmal passiert, in dem wir Einfluss nehmen auf die Gestaltung der internationalen Finanzpolitik. Der Finanzkapitalismus darf nicht noch einmal wilde Sau spielen.

Ihr Kanzlerkandidat Frank Walter Steinmeier schießt sich immer stärker auf den Bundeswirtschaftsminister ein. Ist es richtig, auf Guttenberg loszuballern, dem doch die Leute wohl noch eine gewisse wirtschaftliche Vernunft zubilligen?

Müntefering: Der eigentliche Wahlkampf hat natürlich noch nicht begonnen. Man kann ihn tatsächlich nur sechs bis acht Wochen machen. Der Wahlkampf Steinmeier kommt im August und September. Dann wird es auch harte Worte geben. Demokratie ist keine Harmonieveranstaltung. Was jetzt gesagt wird ist also der konkreten Situation geschuldet und ist nicht der Versuch eines Wahlkampfs. Denn bei uns wie auch bei der Union gibt es eine hohe Bereitschaft, auch der Verantwortung gegenüber der großen Koalition gegenüber gerecht zu werden.

Goutiert die SPD-Basis denn die Fortführung des Kurses, Unternehmen zu retten? Schließlich hätte die Regierung auch Frau Schickedanz und die Bank Sal. Oppenheim gestützt, wenn sie Arcandor mit Staatshilfe gerettet hätte? Der SPD-Ortsvereinsvorsitzende von Dortmund-Aplerbeck hat gesagt, man könne doch nicht die ganze Republik aufkaufen.

Müntefering: Wir sind uns doch völlig einig: Wer eine Bürgschaft beantragt, muss sich gefallen lassen, dass nach der Verpflichtung der Eigentümer gefragt wird. Das ist im Fall Arcandor ja auch geschehen . Ich muss einmal sagen, dass die Sache mit den Bürgschaften nicht so spektakulär ist. In jedem Bundeshaushalt gibt es Milliarden-Bürgschaften. Bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau gab es in den letzten Wochen 1250 Anträge. 613 waren verhandelt. 400 wurden positiv entschieden. 213 nicht. Das ist Alltagsgeschäft, und es sind auch meistens kleine Betriebe, die die Bürgschaften in Anspruch nehmen. Es sind also keine einmaligen Ereignisse, wenn der Staat hilft.

Dennoch ist die Staatsintervention ja strittig.

Müntefering: Es ist normales Regierungshandeln. Als uns der neue Wirtschaftsminister im Koalitionsausschuss Anfang März erklären wollte, was alles im Fall Opel nicht geht, nichts nämlich, haben wir gesagt: Unsere Aufgabe als Regierung ist es nicht, zu sammeln, was dagegen spricht, sondern Bedingungen zu schaffen, dass das Unternehmen gerettet werden und weitergeführt werden kann. Das war der Unterschied. Es ist die Frage nach der Solidarität im Land, die sich hier stellt. Wären unsere Minister Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Olaf Scholz nicht so in die Debatte eingestiegen, wäre Opel in das amerikanische Insolvenzverfahren gegangen. Die Veranstaltung wäre zu Ende gewesen. 140.000 arbeitslos. Es haben von solchen Hilfen auch die etwas, die reich sind und viel Geld haben. Aber die Priorität ist klar: Wenn die Bude brennt, müssen wir die retten, die drin sind. Vor allem die Kleinen. Wir, die wir für die soziale Demokratie sind, können da nicht neutral sein.

Bei Arcandor hat das nicht funktioniert?

Müntefering: Im ersten Anlauf sicher nicht. Aber jetzt müssen alle alles tun, damit sich die Lage stabilisiert.

Kann nicht eine Insolvenz auch eine Chance sein?

Müntefering: Retten ist immer besser als Insolvenz. Das Insolvenzrecht ist geändert worden in der vergangenen Jahren. Da waren wir als SPD aktiv dran beteiligt. Und anders als bei Opel kann nach der Insolvenz noch etwas kommen, weil zwei Drittel des Unternehmens eine Perspektive hat und ein Interessent da ist, nämlich Metro. Teile des Unternehmens sind ja auch ganz erfolgreich. Aber es wird nur die zweitbeste Lösung. Die Eigentümer waren zu mehr nicht bereit. Insgesamt gilt: Wir dürfen die Zuversicht nicht aufs Spiel setzen, denn eigentlich reagieren die Deutschen im Augenblick sehr gelassen.

Unterscheiden sich die Positionen von SPD und Union da wesentlich?

Müntefering: Unterscheiden ja, nicht in allen Punkten wesentlich. Aber es kommt darauf an, sich zu so einem Kurs zu bekennen und nicht immer wegzutauchen.

Hören wir da richtig heraus, dass Sie Ihre Parteifreunde warnen wollen: Vorsicht, es könnte nach den Bundestagswahlen so sein, dass wir wieder zusammen regieren müssen?

Müntefering: Nein. Wir haben das Ziel, nach der Wahl mit den Grünen zusammen zu regieren, die Ampel ist auch eine Möglichkeit. Als allerletzte Option ist dann sicher auch die große Koalition da. So viel Ehrlichkeit muss sein, zu sagen: Wir sind Konkurrenten, aber wir sind keine Feinde. Zwischen der Union und uns gibt es auch Überlappungen und Handlungsmöglichkeiten.

Ist die große Koalition denn wirksam?

Müntefering: In den Geschichtsbüchern wird stehen, dass die große Koalition in dieser Situation auch eine große Hilfe war, dass sie die nötige Mehrheit hatte, wichtige Dinge durchzusetzen in diesem Jahr.

Was zum Beispiel?

Müntefering: Die Konjunkturpakete. Den Sicherheitsrahmen für die Banken. Den Kreditrahmen für die kleinen und mittleren Unternehmen, die in hohem Maße davon profitieren. Das Kurzarbeitergeld. Das Gesetz gegen die Steuerhinterziehung. Erste Ansätze zur Begrenzung von Managergehältern. Wir haben auch miteinander Dinge vereinbart, die die Gestaltung der internationalen Finanzindustrie betreffen. Der Kern unserer Antwort auf die Finanzkrise ist gemeinsam beschlossen worden. Dafür waren große Mehrheiten hilfreich.

Ist Angela Merkel dabei ein guter verlässlicher Partner?

Müntefering: Nicht immer. Sie lässt es beispielsweise zu, dass im Kabinett eine gemeinsame Entscheidung fällt, anschließend aber einer ihrer Minister das Verfahren noch ändern will. Ich warne immer davor, dass die Autorität einer Regierung darunter leidet, wenn man die eigenen Beschlüsse nicht ernst nimmt und dagegen agitiert. Wenn der Wirtchaftsminister hinterher erklärt, eigentlich bin ich dagegen, und sie ihn auch noch lobt dafür, finde ich das hoch kontraproduktiv und nicht in Ordnung.

Müsste Merkel stärker ihre Richtlinienkompetenz in der eigenen Partei durchsetzen?

Müntefering: CDU und CSU machen viel kleinkarierte Parteipolitik auch in der Regierung, habe ich festgestellt. Das war eine Schwäche, die von Anfang an da war.

In Umfragen liegt die SPD zwischen 20 und 30 Prozent, der Politologe Franz Walter sagt, die SPD sei keine Volkspartei mehr. In Duisburg und Essen gibt es keine SPD-Oberbürgermeister mehr, was vor zehn jahren noch undenkbar gewesen wäre.

Müntefering: Das Potenzial, sage ich noch einmal, ist da für uns. Wir haben eine gute Chance, bei der Bundestagswahl wieder weit über 30 Pprozent hinaus zu gehen. Dann werden die Professoren schre8iben, das Potenzial sei immer da gewesen, nur eben bei der Europawahl nicht, und dass es eine wundersame Erholung gegeben habe. Was sollen diese neunmalklugen Professorensprüche?

Sie sind also optimistisch?

Müntefering: Die Menschen in Deutschland wollen nicht Schwarz-Gelb, das ist Mehrheitsmeinung. Schwarz-Gelb, also CDU/CSU und FDP, das ist: Kein Mindestlohn, das ist weniger Kündingungsschutz, das ist Studiengebühr überall, das ist freie Fahrt für Atomkraft, dass die Reichen weniger Steuern bezahlen. Das wollen die Leute alles nicht. Das wollten sie schon 2005 nicht. Und sie wissen auch, dass die Sozialdemokraten beim Regieren eine gute Rolle spielen und eine entscheidende Linie ziehen, dass Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück in der Regierung sind.

Können Sie eine machtpolitische Perspektive ohne die Linken entwickeln?

Müntefering: Es geht uns ja nicht um die Mitglieder der Linken, sondern um deren Wähler. Die Linke ist bei den Europawahlen bei 7,5 Prozent hängen geblieben, und das rechne ich uns schon an als ein Stück Ausbremsen. Man muss auch mal nachfragen: Was ist eigentlich in der Linkspartei los? Die Gruppen dort bekämpfen sich. Ich habe der PDS gesagt: Dieser Bruderkuss, den Ihr da mit der WASG gemacht habt, das wird tödlich für Euch. Denn da sind zwei sehr unterschiedliche Kulturen aufeinander gestoßen. Wir werden uns 2009 auf Bundesebene auf keinen Fall in irgendeiner Weise mit denen verbünden.

Ist die Linie richtig, die Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen fährt? Sie legt sich nicht fest, wie sie mit den Linken nach der Landtagswahl umgehen will.

Müntefering: Ich halte diese Linie für absolut richtig. Warum soll man jetzt entscheiden? Es ist Sache der SPD-Organisationen in den Ländern, wie sie dies handhaben. Für die Bundesebene kann ich die Zusammenarbeit ausschließen.

Gehören zum sozialdemokratischen Bestand auch noch die Hartz-Gesetze? Oder wird das wegen des großen Ärgers revidiert?

Müntefering: Nein, es war richtig, was wir da gemacht haben. Der Ärger ist gekommen, als es um die Zumutbarkeit von Arbeit ging, als wir entschieden haben, dass alle, die mehr als drei Stunden arbeiten können, nicht mehr als Sozialhilfeempfänger gelten. Das hat dazu geführt, dass 700.000 zum 1. Januar 2005 eben nicht mehr Sozialhilfeempfänger waren, sondern Arbeitslose. Wenn wir das wieder ändern würden, dann wären das alles Leute, um die sich keiner mehr kümmert, die sozusagen stillgelegt wären: Stütze und Schluss. Das darf nicht zurückkehren. Das ist auch eine Frage von Würde. Die können noch was.

Immerhin gibt es keine Arbeitslosenhilfe mehr, das heißt man fällt vom Arbeitslosengeld I in die Bedürftigkeit.

Müntefering: Nach über einem Jahr wohlgemerkt. Das ist der andere Punkt, der viele Menschen aufregt. Aber uns ist es immerhin auch dank der Hartz-Reformen gelungen, die Zahl der Arbeitslosen von fünf Millionen auf 3,2 Millionen zu reduzieren. Und ich glaube, wenn wir die Finanzkrise überwunden haben, dann können wir an diese positive Tendenz wieder anknüpfen. Deshalb ist es so wichtig, die Arbeitsplätze, die entstanden sind, zu erhalten, etwa mit dem Kurzarbeitergeld. Die entscheidende Frage ist: Läuft es jetzt auf staatliche Unterstützung für sehr viele hinaus? Oder versuchen wir mit den Instrumenten, die wir haben, die Menschen in Beschäftigung zu halten? Ich bin für die zweite Lösung. Die einzige Partei, die dagegen kämpft, ist die Linke. Sie versucht nicht Arbeitsplätze zu erhalten, sondern will immer nur mehr Geld für die Sozialsysteme. Aber genau das ist nicht sozial.

Das Kurzarbeitergeld hat sich bewährt, das sagen alle. Warum schreibt man das nicht dauerhaft fest, warum die zeitliche Befristung

Müntefering: Wir wollen das natürlich nicht als Dauerzustand haben. Es ist ja eine Art Teilzeitarbeit, die hier zeitweise entsteht. Damit die Betriebe, die das Geld nicht haben, keine allzu großen Verluste einfahren, springt der Staat ein. Das kostet natürlich riesig viel Geld. Man muss da schon den Druck lassen, damit sich die betroffenen Unternehmen nach einer gewissen Zeit entscheiden müssen und nicht den Staat den Lohn teilweise zahlen lassen.

Mancher muss im Anschluss an Arbeitslosengeld I sein Häuschen verkaufen, während zum Beispiel die Eigner von Arcandor nicht ihr gesamtes Vermögen einsetzen müssen, bevor der Staat hilft. Ist das gerecht?

Müntefering: Die Leute müssen nicht ihr Häuschen verkaufen, es sei denn es ist eine Villa.

Naja, bei 131 Quadratmeter ist die Grenze.

Müntefering: Also, das ist ja nicht wenig, da fallen schon mal viele raus. Dazu kommt noch das Auto, die Riesterrente, generell kommt bald die Altersvorsorge, die nicht vorher verbraucht werden kann, in den Vermögensschutz rein. Für ein Ehepaar von 60 Jahren kommen noch 25 000 bis 30 000 Euro Schonvermögen hinzu. Wer mehr hat, muss das erst mal verbrauchen, das ist eine Frage der Bedürftigkeit. Man muss ja aber auch sehen, dass das sonst alles aus den Steuern bezahlt werden müsste.

Und die Unterstützung der Wirtschaft?

Müntefering: Dass es Leute gibt, die sagen: Iich muss mich krummlegen, während die Unternehmen gerettet werden – ich kann das verstehen. Es ist am Ende aber auch niemandem geholfen, wenn es allen gleich schlecht geht. Wir müssen doch die Arbeitsplätze sichern, wo soll denn sonst der Wohlstand herkommen? Die Forderung, entweder die Politik hilft allen oder keinem, ist doch wahnsinnig. Da könnte die Politik sich ja gleich aus allem raushalten, das ist keine Lösung. Die wichtigsten Pflöcke müssen gehalten werden.