Mönchengladbach. . Für Kommissar Ingo Thiel beginnt in ein paar Tagen das Jahr eins nach Mirco: Der Fall des zehnjährigen Jungen aus Grefrath, der im September 2010 entführt, missbraucht und getötet wurde, war der bislang wichtigste im Leben des 48-Jährigen. Fünf Monate jagte er Mircos Mörder.
Ingo Thiel ist Jäger. In seiner Freizeit jagt er Wildschweine, im Beruf Verbrecher. Der Kriminalhauptkommissar der Polizei Mönchengladbach leitete die Sonderkommission, die Anfang des Jahres den Mörder des zehnjährigen Mirco aus Grefrath aufgespürt hat. Seinen Leuten hat er immer gesagt, dass es eine Zeitrechnung vor und nach diesem Fall geben wird. In ein paar Wochen beginnt für Ingo Thiel das Jahr eins nach Mirco.
Er denkt noch immer jeden Tag an dieses Kind, das er nie getroffen hat. Mit dem er nie gesprochen hat, dem er nie durchs blonde Haar gewuschelt hat, dem er nie in die Augen gesehen hat. Und trotzdem: „Das war unser Junge.“ Dass er den Zehnjährigen nie persönlich kennengelernt hat, lässt der Kommissar nicht gelten: „Wir haben ihn nachher besser gekannt als manch anderer aus seinem Bekanntenkreis. Das ist schon komisch.“
Als am 4. September abends bei Ingo Thiel das Telefon klingelt, ist Mirco schon seit 24 Stunden verschwunden. Die Viersener Polizei hat den Jungen einen halben Tag gesucht, geht jetzt von einem Gewaltverbrechen aus. Thiel übernimmt, die Kommission wird gebildet, und sie wird Teil dessen sein, was immer wieder als die größte Suchaktion in der Kriminalgeschichte der Bundesrepublik bezeichnet wird: Knapp fünf Monate durchkämmen bis zu 1000 Einsatzkräfte ein 50 Quadratkilometer großes Gebiet, Hubschrauber und Tornado-Kampfjets der Bundeswehr überfliegen das Areal. Sie finden Kleidungsstücke des Kindes, sie finden Mircos Handy, den Jungen finden sie nicht.
65 Männer und Frauen suchen nach dem Täter, 146 Tage ohne Pause
65 Männer und Frauen suchen nach dem Täter. 146 Tage ohne Pause, nicht mal an Weihnachten. Und Thiel ist überzeugt: „Ja klar kriegen wir den. Keine Frage, wir kriegen den.“ Wie kann man sich so sicher sein? „Wir hatten ein kleines, feines Spurenbild. Das führt irgendwann zum Erfolg. Wir haben daran geglaubt.“ Der 48-Jährige ist unter Kollegen bekannt dafür, sich in seine Fälle zu verbeißen, „die wissen, dass das ein bisschen wahnsinnig wird“. Am ersten Abend nimmt er die Akte mit nach Hause. Liest bei einem Glas Wein oder einer Flasche Bier alles, was bislang aufgeschrieben wurde. Schläft zwei Stunden, duscht und ist wieder im Dienst. Diesen Tunnelblick behält er, bis der Fall geklärt ist, auch bei Mirco. „Ich bin damit ins Bett gegangen und bin damit aufgestanden.“ Es gab Momente, da war in Ingo Thiels gar nicht so kleinem Kopf kein Platz mehr: „Ich hatte das Gefühl, mir laufen die Informationen aus den Ohren raus. Kennen Sie das?“
Privatleben bleibt keins. Gar keins. Seine Lebensgefährtin hat in diesen Monaten alles übernommen, neben ihrem Job als leitende Krankenschwester einer Intensivstation. Hat sich ums Haus, den Garten und um Carlos, den Jagdhund, gekümmert, den Thiel sich kurz vor Mircos Verschwinden angeschafft hatte und der mitten in seiner Ausbildung steckte. Und dann, nachdem der Täter gefasst war, die Leiche des Jungen gefunden und bestattet, nachdem die Mordkommission ihre Ermittlungen endgültig abgeschlossen hatte, hat sie Ingo Thiel auch noch geheiratet. „Das ist doch mal ’n Pfund, oder?“, fragt der 48-Jährige grinsend, und der Niederrhein, an dem er geboren ist und sein Leben verbracht hat, ist nicht zu überhören.
Ingo Thiel ist nich leicht zu lesen – distanziert und Kumpeltyp
Dieser Mann, der ständig mit Menschen zu tun hat, die Dinge vor ihm verbergen wollen, ist nicht leicht zu lesen. Fremden begegnet er distanziert. „Ich bin erst mal vorsichtig, stimmt, ich muss nicht direkt jedem um den Hals fallen.“ Aber ein Kumpeltyp ist er auch, bekennender Vereinsmensch, jeck dazu – den Vorsitz im Karnevalsverein hat er gerade nach 20 Jahren abgegeben, war sogar gemeinsam mit seinem Vater auf der Bühne. Und wenn Ingo Thiel über seinen Beruf spricht, übers Polizist sein, Verbrecher jagen, Fälle aufklären, darüber, wie viel ihm das bedeutet und wie sehr es ihm auch nach 32 Jahren noch Spaß macht, dann verortet sich der Mann mit dem angegrauten Ziegenbart und dem stechenden Blick immer und immer wieder in seinem Team.
„Ich hab viele Kommissionen geleitet, aber keine war so wie die.“ Das hat wohl viel mit dem enormen Druck zu tun, unter dem die Männer und Frauen standen. Druck von außen und Druck, den sie sich selbst gemacht haben. Gemeinsam haben sie ihm standgehalten, und die Vermutung, dass Ingo Thiel als Leiter ein bisschen mehr geschultert hat, um seinen Kollegen den Rücken frei zu halten, ist nicht weit hergeholt.
Der Druck hat das Team aber offenbar auch für immer zusammengeschweißt. Treffen sich zwei der Kollegen auf dem Gang im Präsidium, gibt’s eine Umarmung. So viel öffentliche Herzlichkeit ist - vor allem unter Männern - in diesem Beruf ungewöhnlich. Es war eine sechs Monate währende Ausnahmesituation. „Ich habe denen gesagt: ,Es gibt nur eine Soko Mirco, es wird nie mehr einen andere geben. Ihr schreibt hier Kriminalgeschichte, darüber müsst ihr euch im Klaren sein.’“ Als der Täter überführt war, haben viele von ihnen geweint. Auch Thiel. Hemmungslos.
Dumme Sprüche gibt es jedes Mal
Lebenslang für den Täter Olaf H.
Olaf H., 45 Jahre alter Familienvater aus Schwalmtal, wurde am 29. September zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er Mirco entführt, missbraucht und erdrosselt hatte. Es stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Das Motiv für den Mord blieb im Prozess unklar. Erste Aussagen, H. habe aus beruflichem Stress spontan gehandelt, stellten sich als falsch heraus.
Gebrüllt hat er auch. Und Türen geknallt. „Wenn Leute reingeredet haben, die keine Ahnung hatten. Man kann nicht über eine Soko sprechen, wenn man nicht weiß, wie die funktioniert, auch als Kollege nicht“, sagt Thiel, zündet sich noch eine Zigarette an und redet sich auch gleich in Rage. Dumme Sprüche gebe es jedes Mal, nach drei, vier Tagen kämen die ersten, die sagten, der Erfolg sei nur Zufall gewesen. Nach Mirco, dachte der Kommissar, werde es eine Woche dauern. „Falsch“, hat er festgestellt, „ging genauso schnell.“
Thiel weiß, wie sie funktioniert hat. Und weil sie so gut funktioniert hat, spricht er drüber, hält mit zwei Kollegen Vorträge in Polizeibehörden in der ganzen Republik über die Arbeit der Soko Mirco. Erzählt etwa von dem einfachen, aber sehr effektiven Mittel, an einem Tatort ein Schild aufzustellen, um von den Menschen, die sowieso immer dort vorbei kommen, Hinweise auf Verdächtiges zu bekommen. Oder von dem Briefkasten, den die Soko installierte, damit auch diejenigen Informationen loswerden konnten, die direkten Kontakt mit der Polizei scheuten. Und selbstverständlich über all die Dinge, die nur die Kollegen erfahren, um keine Täter vorzuwarnen. Was macht Sie zu einem guten Ermittler, Herr Thiel? „Ich mach’ das ja nicht alleine. Bei Mirco sind noch 64 andere dabei gewesen“, sagt er, und die Bescheidenheit nimmt man ihm ab, auch wenn der Kommissar garantiert genau weiß, was er kann. „Vielleicht liegt es daran, dass wir es sehr gut verstehen, die Fähigkeiten der einzelnen zu nutzen und zueinander zu bringen.“
Auch als Kripo-Mann kann man sich Mitgefühl erlauben
Eine von Thiels Fähigkeiten scheint der unbedingte Fokus aufs Wesentliche zu sein, die Scheuklappen, die er anlegt, wenn er sein Ziel verfolgt. Wie viel Mitgefühl kann er sich erlauben? „Viel eigentlich. Aber man muss immer eine Grenze ziehen zu dem, was man erreichen will. Wir kommen nicht zum Gratulieren, das ist nun mal so“, sagt er und weiß, dass das auf viele kaltschnäuzig wirken kann. Zu Unrecht: „Das Mitgefühl war eine ganz entscheidende Komponente bei Mirco, weil die Eltern und wir gegenseitig aufeinander eingegangen sind.“ Doch es gebe Situationen, in denen man zwischen Rücksichtnahme und Ermittlungserfolg entscheiden muss. Diese Entscheidung fällt Thiel nicht schwer.
Dass der Fall Mirco der Fall seines Lebens war, ist für Ingo Thiel keine Frage. Dass er den Job bei der Kripo weiter machen will, genauso wenig, sagt er und grinst schief: „Ich kann ja nix anderes.“
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