Krefeld. . Olaf H., der mutmaßliche Mirco-Mörder, ist laut einem Gutachten voll schuldfähig. Demnach könnte er einem sadistischen Handlungsimpuls gefolgt sein. Er habe persönlichen und beruflichen Stress mit Gewaltfantasien aufgearbeitet, vermutet der Gutachter.
Warum nur? Das „Warum“ zieht sich als roter Faden durch das Verfahren, es steht den Eltern des getöteten Mirco ins Gesicht geschrieben, man sucht es hinter der Stirn seines mutmaßlichen Mörders Olaf H. (45), versucht, jedes Zucken in seinem blassen Gesicht zu deuten. Was könnte einen unbescholtenen, gut situierten, sexuell auf Frauen ausgerichteten Familienvater dazu bringen, sich einen Zehnjährigen vom Straßenrand zu greifen, ihn zu missbrauchen, zu töten?
Derjenige, der vor dem Landgericht Krefeld am nunmehr 13. Verhandlungstag des „Mirco“-Prozesses zumindest den Versuch einer Erklärung für das Motiv des Täters abgibt, ist der psychiatrische Gutachter Dr. Martin Albrecht.
Die Täter fallen bis zur Tat nicht auf
Der Viersener hat bereits in den 70er-Jahren den Duisburger Waschkauenwärter und Serienkiller Joachim Kroll begutachtet, unter vielen anderen Tätern. Er ist Vertreter des traditionellen, psychodynamischen Ansatzes. Aus dem Stegreif zitiert er wissenschaftliche Untersuchungen. Er redet frei, zwei Stunden lang.
Sein für das Gericht, aber auch für Mircos Eltern wichtigstes Urteil: Der Angeklagte sei eine „gesunde Normalperson“, die Schuldfähigkeit sei in vollem Umfang vorhanden. Dann holt der Psychiater aus, um das Unerklärliche verständlich zu machen.
Denn Dr. Albrecht ist auf der Suche nach dem, was hinter der Fassade steckt. Bei Fällen von Kindstötung in Verbindung mit sexuellen Handlungen unterscheide man, stark vereinfacht, zwei Gruppen. Diejenigen, die töten, um die vorherige Straftat zu vertuschen. Diese Täter stammten überdurchschnittlich oft aus desolaten Verhältnissen, zuvor bereits häufig aufgefallen, finden ihre Opfer im Bekanntenkreis.
Die zweite Tätergruppe folge einem sadistischen Handlungsimpuls. Diese Taten sind selten – vielleicht gäbe es fünf Fälle pro Jahr, so Albrecht. Statistisch sind sie kaum erfassbar, aber Vergleiche zeigen: Die Täter fallen bis zur Tat nicht auf. Sie sind heterosexuell. Sie haben Jobs, haben Kinder – und Nachbarn, die sie nett finden. Sie töten, weil sie ihre Fantasie zur Realität machen wollen, in der sich Macht und Lust zu grausamer Begierde vereinen. Höhepunkt ist der Tod des Opfers.
„Und welches Opfer könnte die Fallhöhe zwischen Ohnmacht und der eigenen Allmacht besser verdeutlichen, als ein Kind?“ fragt er. Ist Olaf H. ein Sadist? Das könne man so nicht sagen, so der Psychiater – gleichwohl würde er ihn am ehesten in diese Gruppe einordnen.
Stress im Job nur schwer ertragen
Olaf H. ist hochintelligent, an der Grenze zur Hochbegabung, haben seine Tests ergeben. Aber er sei auch jemand, der, vor allem im Job, nur schlecht Stress ertragen könne, Phobien entwickle, unangenehmen Dingen gerne ausgewichen sei, Termine verpasst und darüber gelogen habe. Vielleicht ist er labil, vielleicht gibt es ein Trauma aus der Kindheit – Olaf H., so vermutet der Experte, habe persönlichen und beruflichen Stress wohl immer mehr mit Gewaltfantasien abgearbeitet. Bis er, warum auch immer unter Druck geraten, die Fantasie auch umsetzen wollte.
Handeln mit Vorsatz – ein Zeichen dafür sei „Cruising“, so heißt der psychiatrische Fachbegriff, das stundenlange Herumfahren auf der Suche nach Opfern, wie der Jäger auf der Pirsch, wie Olaf H. am 3. September 2010, Mircos Todestag. Beweisen, sagt Psychiater Martin Albrecht, könne er freilich nichts. Denn so, wie Olaf H. auch vor Gericht zumeist geschwiegen hat, so hat er auch jeden Persönlichkeits- oder Sexualtest „regelrecht abgeblockt“.
Der Vorsitzende Richter Herbert Luczak hat die Beweisaufnahme des Verfahrens nahezu abgeschlossen. Am kommenden Montag sind die Plädoyers geplant, am Donnerstag könnte das Urteil gesprochen werden. Olaf H. droht eine lebenslange Freiheitsstrafe, es könnte auch die besondere Schwere der Schuld ausgesprochen werden, mit Auswirkungen auf die Haftdauer. Olaf H.’s Verteidiger kündigte am Freitag an, dass sein Mandant sich mit einem Schlusswort an Mircos Eltern zu Wort melden will.