Witten. Wo heute Lofts stehen, wurde einst Schnaps gebrannt: Das und mehr verraten historische Karten Wittens. Sie zeigen die Stadt im Wandel der Zeit.

Kaum jemand kennt sich in der Wittener Stadtgeschichte so gut aus wie Heinrich Schoppmeyer. Der 89-Jährige hat 2012 den Doppelband „Witten. Geschichte von Dorf, Stadt und Vororten“ veröffentlicht. Es ist das Standardwerk der lokalen Geschichtsschreibung. Nun hat Schoppmeyer einen historischen Atlas mit alten Karten der Ruhrstadt herausgebracht. Was trocken klingt, bietet spannende Einblicke in die Wittener Geschichte.

So ließ etwa der preußische Staat nach 1800 auch das Gebiet um Witten vermessen und die Ergebnisse in einer Karte festhalten. „Die daraus hervorgegangene Katasterkarte von 1823 erlaubt einen Blick zurück in die frühe Neuzeit und das Mittelalter“, sagt Historiker Schoppmeyer. Gleichzeitig lasse sich an ihr aber auch bereits der beginnende Wandel hin zur industriell geprägten Stadt ablesen.

Witten hat 1823 gerade einmal 1700 Einwohner

Die preussische Katasterkarte von 1823 zeigt Witten inmitten vieler Felder. Nur der heutige Stadtkern ist bereits besiedelt.
Die preussische Katasterkarte von 1823 zeigt Witten inmitten vieler Felder. Nur der heutige Stadtkern ist bereits besiedelt. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

In dunkelrot eingefärbt fallen die Johanniskirche und die ehemalige Dorfschule ins Auge. An der Stelle der letzteren steht heute der Help-Kiosk. Um die Kirche herum, die seit mindestens 1214 an diesem Platz steht, gruppiert sich das Oberdorf, der historische Kern Wittens – relativ ungeordnet und dicht gedrängt in Form eines sogenannten Haufendorfes.

Witten hatte zu dieser Zeit gerade einmal 1700 Einwohner. Ganz unten sieht man am Ende der neu gebauten Straße, der heutigen Haupt- und Ruhrstraße, links die Kornweinbrand-Brennerei Lohmann, 1790 errichtet. Später zog hier die Scharfen Maschinenfabrik ein. Heute wird in den historischen Gemäuern an der Ruhrstraße 76a, b und c gewohnt. Das Architekturbüro Frielinghaus Schüren hat dort Luxus-Lofts entstehen lassen. Ein Stück weiter höher stand damals das Hotel „Zum König von Preußen“. Zu sehen ist davon heute nichts mehr. Hier steht nun das Haus am Voß‘schen Garten.

Kornmarkt war Treiber der Stadtentwicklung

Um 1800 war das Ortsbild noch von Bauernhöfen und Kotten geprägt, doch es hatten sich auch schon fast genauso viele Gewerbetreibende angesiedelt, etwa Handwerker, Händler, ein Apotheker, ein Unternehmer – und auffällig viele Gastwirte. „Das lag am Kornmarkt“, erklärt Schoppmeyer.

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Denn den gab es schon seit dem 14. Jahrhundert. Landwirte aus der fruchtbaren Hellwegzone zwischen Witten und Recklinghausen brachten ihr Getreide hierher. Händler aus dem Sauerland kauften es ihnen ab. „Denn dort gab es viel Gewerbe, aber wenig fruchtbares Ackerland.“ Witten diente als Schnittstelle zwischen den beiden Regionen – und war gleichzeitig eine Steueroase. Denn durch einen Sonderstatus musste in der Ruhrstadt bis 1744 keine Umsatzsteuer auf Getreide gezahlt werden. Und die zahlreichen Bauern und Händler wollten schließlich bewirtet werden.

Bergbau floriert und Stahlindustrie siedelt sich an

Neben dem Kornmarkt beschleunigten auch der Bergbau und die sich ansiedelnde Stahlverarbeitung den Wandel des Dorfes zur Stadt. Zwischen 1780 und 1830 gab es allein auf heutigem Wittener Gebiet insgesamt 155 Gruben unterschiedlicher Größe. Johann Friedrich Lohmann pachtete 1788 das Haus Witten (damals Haus Berge), kaufte es 1815 und wandelte es in eine Stahlfabrik um. „Bis dahin war das Haus der Sitz der maßgeblichen Adelsherrschaft“, sagt Schoppmeyer. Die Umwandlung markiere daher einen Kipppunkt zwischen der agrarisch geprägten Adelsgesellschaft und der Industriegesellschaft.

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Bis 1871 verzehnfacht sich die Wittener Bevölkerung

Wie schnell sich dieser Wandel dann vollzogen hat, zeigt ein Stadtplan von 1868. Zwischen 1825, als Witten erstmals den Status einer Stadt erlangte, und 1871 hat sich die Bevölkerung knapp verzehnfacht. Es lebten nun schon über 15.000 Menschen hier. Die einschneidendste Veränderung ist die 1848/49 eröffnete Bahnlinie, die Witten in einem Halbkreis umzieht. „Sie wirkte wie eine Mauer“, sagt Historiker Schoppmeyer. Bis heute bestimme die Bahnlinie die Stadtplanung in Witten unwiderruflich mit.

Dieser Nachdruck eines Stadtplanes von Witten aus dem Jahr 1868 zeigt deutlich die Veränderungen auf: Die Bahngleise schließen die Stadt in einem Halbkreis ein, Industriebetriebe haben sich entlang der Schienen angesiedelt.
Dieser Nachdruck eines Stadtplanes von Witten aus dem Jahr 1868 zeigt deutlich die Veränderungen auf: Die Bahngleise schließen die Stadt in einem Halbkreis ein, Industriebetriebe haben sich entlang der Schienen angesiedelt. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Alt-Witten entwickelte sich zunächst nur innerhalb dieser Begrenzung weiter. Zahlreiche neue Industriebetriebe haben sich zu diesem Zeitpunkt auch schon entlang der Gleise angesiedelt. Zu sehen ist etwa links des Bahnhofs die Steinhauser Hütte, 1855 gegründet. Bei den Arbeiten für das neue Gewerbegebiet Drei Könige 2018 kamen ihre Überreste wieder zu Tage.

Eröffnung des Rheinischen Esels bringt noch mehr Industrie in die Stadt

Gleichzeitig entwickelte der Bahnhof einen „Sog“: Die Bahnhofstraße entstand, weitere Planungen richteten sich an ihr aus. Am nördlichen Ende der Hauptstraße begann ein katholisches Viertel zu entstehen. Zu sehen sind – schwarz eingefärbt –die 1848 eingeweihte Marienkirche und das katholische Krankenhaus, seit 1858 in Betrieb.

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Auch der Ende 1880 eröffnete Rheinische Esel zog seinerseits Industrieansiedlungen nach sich. Nun entstanden auch im Osten des alten Wittens Gewerbe und Industrie. Auch der innerstädtische Bereich war von kleineren Gewerbeflächen durchsetzt. „Das galt damals aber nicht als Problem“, so Schoppmeyer. Sichtbar sei das etwa auch an den vielen Unternehmervillen, die in unmittelbarer Nähe errichtet wurden, etwa 1873 die Villa Gustav Lohmanns direkt neben der Zeche Franziska.

Bis 1900 durchzogen dann schon mehrere Straßenbahnlinien die Stadt. Denn die vielen Arbeiter in den Industriebetrieben mussten ja irgendwie an ihren Arbeitsplatz kommen. Die Linien führten bis Annen-Süd (Kreisstraße), Bommern-Denkmal, nach Langendreer und auch Heven und Herbede waren angebunden. Sie alle trafen sich am Marktplatz. Witten wurden also immer urbaner und wuchs weiter. 1921 wurde Heven, 1929 die benachbarten Gemeinden Bommern, Krone, Düren, Stockum, Wullen, Annen und Rüdinghausen angegliedert. Erst 1975 folgte Herbede.

Historischer Atlas im Ardey-Verlag

Die historischen Karten Wittens sind der 17. Band des Historischen Atlas Westfälischer Städte. Herausgegeben wird die Reihe von der Historischen Kommission für Westfalen und dem Institut für vergleichende Städtegeschichte (Universität Münster).

Viele der Karten stammen vom Verein für Orts- und Heimatkunde, den Heinrich Schoppmeyer von 1987 bis 2011 leitete, und dessen Ehrenvorsitzender er nun ist. Der Atlas enthält auch einen Abriss der Stadtgeschichte sowie zahlreiche zusätzliche Abbildungen und Informationen. Erhältlich ist er über Buchhandlungen und beim Ardey-Verlag (ardey-verlag.de).

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