Witten. 1939 lebten in Witten mehrere Sinti-Familien. Was sie unter den Nazis erleiden mussten, erzählt der Historiker Ralph Klein in seinem neuen Buch.
Über 80 Frauen, Männer und Kinder lebten 1939 in einem „Zigeuner“-Lager im Wittener Dorneywald. 66 von ihnen wurden vier Jahre später nach Auschwitz deportiert. Überlebt haben das Vernichtungslager der Nationalsozialisten nur zehn dieser Angehörigen des Volkes der Sinti. Wer die Menschen waren, wie sie gelebt haben und welche Rolle bei ihrer Verfolgung und Ermordung die Behörden hier vor Ort gespielt haben, hat der Historiker Ralph Klein für sein neuestes Buch rekonstruiert.
„Der Festsetzungserlass war das Anfang vom Ende“, sagt Klein. Gemeint ist damit eine Verfügung Heinrich Himmlers vom Oktober 1939. Sinti und Roma durften sich von nun an nicht mehr frei bewegen, sondern mussten an dem Ort bleiben, an dem sie sich gerade befanden. Sie wurden wortwörtlich festgesetzt. Auch mussten sie fortan gemeinsam in Lagern leben.
Grundstück an der Grenze zu Dortmund wird in Witten zum Sinti-Lager
In Witten entschied man sich für ein privates Grundstück an der Grenze zu Dortmund. Auf einer alten Fußballwiese an der heutigen Dorneystraße sammelten sich bis zu zehn Familien mit ihren Pferdekutschen und Wagen. „Augenzeugen berichten auch von hölzernen Buden, die später errichtet wurden“, sagt Klein.
Für seine Recherche hat er zahllose Archive durchforstet, war in Berlin, München, Münster, Koblenz, Auschwitz. Der Wittener Historiker konnte auch Zeitzeugen ausfindig machen, die das Lager noch als Kind gesehen haben. Die Arbeit sei ein „Puzzlespiel“ gewesen, noch mehr als sonst. „Denn die Sinti sind eine schriftlose Kultur“, sagt Klein. So wurde seitens der Verfolgten kaum etwas überliefert.
Sinti blieben sonst nur wenige Tage in Witten
Vor jenem historischen Erlass im Oktober 1939 kamen die Sinti-Familien nur zu besonderen Anlässen in die Ruhrstadt – etwa zur damals schon stattfindenden Zwiebelkirmes oder zu Viehmärkten. Die Jahrmärkte waren wichtige Anlaufpunkte für die Sinti, die sich als Artisten, Scherenschleifer, mit Musik, Wahrsagerei und allgemeinem Handel, etwa mit Korbwaren, ihren Lebensunterhalt verdienten. Lange bleiben durften sie nicht. „Das wandernde Volk durfte sich nur zwei bis drei Tage innerhalb der Stadtgrenzen aufhalten“, sagt Ralph Klein. Dann mussten sie weiterziehen.
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Die Situation begann sich 1938/39 zu wandeln. In anderen Städten, wie etwa in Düsseldorf, Essen oder Gelsenkirchen, seien damals schon erste Lager errichtet worden. „Viele sind dem ausgewichen und in kleinere Orte mit weniger Kontrolle und Vorschriften gezogen“, sagt der Wissenschaftler. So kam es, dass sich Ende 1939, als auch hier ein ‘Ghetto’ für das sonst fahrende Volk entstand, rund 80 Sinti-Männer, Frauen und Kinder in Witten befanden. Sie alle mussten sich im Dorneylager niederlassen.
Sinti-Männer wurden Arbeitsstellen zugewiesen
„Insgesamt muss es sehr beengt zugegangen sein“, sagt der 67-Jährige. Ein Augenzeuge habe ihm berichtet, dass die Menschen teilweise unter den Wagen geschlafen haben. Sanitäre Anlagen gab es vermutlich nicht. Der nahe Feldbach sorgte immerhin für frisches Wasser. Auch war das Lager nicht umzäunt. Die Sinti konnten also kommen und gehen, wie sie wollten. Polizisten kontrollierten allerdings regelmäßig das Gelände.
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Dennoch führten die Menschen im Lager in den kommenden drei Jahren ein einigermaßen „ruhiges und geordnetes“ Leben, sagt der Historiker. „Die Kinder gingen zur Schule – viele von ihnen auf die Harkortschule –, die Eltern waren als Hilfsarbeiter einer Arbeitsstelle zugewiesen, etwa bei Wickmann.“ Es sei keine Zwangsarbeit gewesen, aber „unfreie Arbeit“, so Klein. Denn wo sie arbeiten mussten, konnten sich die Sinti nicht aussuchen.
Polizisten stürmten das Sinti-Lager im Morgengrauen
Die Unterdrückung der Sinti durch das NS-Regime wurde immer umfassender. Ab 1941 wurden Sinti-Kinder zwangsweise ausgeschult. „Nach und nach gab es auch immer mehr Sonderzahlungen für Sinti“, so Klein. Etwa eine sogenannte „Sozialausgleichszahlung“, die 15 Prozent des Lohnes betrug. Auch Kündigungsschutz, Urlaubsgeld und Ähnliches wurde gestrichen. „Sie galten als ‘artfremde Rassen’, das Leben sollte ihnen so schwer wie möglich gemacht werden.“
Das Schicksal der Wittener Sinti wurde wie das zahlloser Menschen im damaligen Reichsgebiet durch den Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 besiegelt. In ihm wurde von Himmler als oberstem Polizeichef angeordnet, alle Sinti und Roma zu ihrer Vernichtung in das Konzentrationslager Auschwitz zu deportieren. Am 9. März 1943 stürmten im Morgengrauen Polizisten das Lager in Stockum, rissen die Menschen aus ihren Betten und verfrachteten sie auf Lastwagen. Über Bochum wurden sie schließlich in Zügen nach Auschwitz gebracht.
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Die Wittener Behörden sieht Klein als „energische und engagierte Vollzieher“. Spielräume, die man vor Ort wohl gehabt hätte, seien nicht genutzt wurden. So geschehen am Beispiel von Josef Lind. Der Familienvater war in einer anderen Stadt festgesetzt worden als Frau und Kinder, die in Witten bleiben mussten. Als er sie eines Tages besuchen wollte – was ohne behördliche Genehmigung nicht erlaubt war – , wurde er am Bahnhof in Witten von hiesigen Polizisten kontrolliert. „Sie hätten ihn auch einfach zurückschicken können“, sagt Klein. Stattdessen landete der junge Mann im KZ.
Kurz-Biographien erforscht
Großen Wert hat Klein auch darauf gelegt, die Namen und Kurz-Biographien der damals in Witten lebenden Sinti zu erforschen und Klarheit über ihr Schicksal während der Verfolgung zu erlangen. Auch diese Ergebnisse seiner Arbeit finden sich in dem Band.
Das Buch „Von Witten nach Auschwitz. Die Deportation der Sinti im Nationalsozialismus“ ist im Verlag De Noantri erschienen. Erhältlich ist es derzeit in der Buchhandlung Lehmkuhl, Marktstraße 5. Bestellbar ist es auch online über den Verlag. ISBN 978-3-943643-19-0.