Oberhausen / Bonn. Klaus Weise, der als Intendant das Schauspiel zurück nach Oberhausen brachte, erzählt im Roman „Sommerleithe“ Zeitgeschichte aus Kindes-Sicht.
Klaus Weise brauchte einige Anläufe, um sich diesem Lebensthema in literarischer Form zu stellen. Erste biografische Aufzeichnungen brachte er schon als Student an der Münchner Filmhochschule zu Papier. „Sie gingen leider verloren“, sagt Oberhausens erfolgreicher Schauspiel-Intendant der zwölf Jahre von 1991 bis 2003. Für das Theater am Will-Quadflieg-Platz schuf er einst ein „Woyzeck Schlachtfest“ – ein früher Verweis auf die Jugend des Schlachtersohnes.
Jetzt ist aus der Biografie des heute 69-Jährigen zwischen Gera und Mülheim-Dümpten ein lebenspraller, 310 Seiten starken Roman geworden: „Sommerleithe“, ein schön gestaltetes Buch mit Lesebändchen, zeigt auf seinem Einband den Vater, Hans Weise, mit langem Messer und gespanntem Lächeln zwischen zwei Rindervierteln. Hinter solcher Umhüllung vermutet man erstmal keinen Lebensbericht eines Theatermachers.
Ist es auch nicht: Klaus Weises zwischen Tagträumen und surrealen, aber verbürgten Szenen changierende Erzählung ist ebenso Zeitgeschichtsschreibung – aber aus der Perspektive eines Kindes und später rebellischen Jugendlichen – wie Vater-Sohn-Konflikt. Und es ist die Geschichte eines sehr früh beendeten Lebens, das seines Bruders Dieter.
„Die Zeit dehnt sich“ am Räucherspieß
In „Sommerleithe“, es ist der Straßenname von Weises erstem, glücklichen Zuhause in Gera, heißt der Sohn, der im Schlachthaus verunglückt, Klaus – und Dieter der ältere Bruder, den der Metzgervater und ein Geselle in einem derben Scherz hoch in den gekachelten „Himmel“ zwischen Schinken und Mettwürsten heben. Dort klammert er sich an den Räucherspieß, erst triumphierend, dann voller Angst, als die Erwachsenen die Tür hinter sich schließen.
„Die Zeit dehnt sich wie in einer Zeitlupenschleife“, sagt Klaus Wiese – auch am Telefon in Bonn ein hingebungsvoller Erzähler – über jene minutenkurze Episode seines Lebens, zu der die Erzählung immer wieder zurückkehrt. Sie steht auch für das zeitlebens gespannte Verhältnis zum Vater: Eine ganz eigene Mischung aus Bewunderung und Angriffslust? „Genau“, sagt der Autor lachend. Erst in den letzten Jahren mochte er sich eingestehen, „wie viel ich von ihm geerbt habe – auch meinen Unabhängigkeitsdrang“. Intendant sei er schließlich nur geworden, um sich als Regisseur nicht ständig fügen zu müssen.
Die erzählte Zeit von den, aus kindlicher Sicht, glücklichen Jahren in der DDR über den schweren Anfang im Westen bis zur wütenden Rebellion des für einen „68er“ etwas zu jungen Sohnes bietet ein Panorama der Wirtschaftswunderjahre – voller komischer bis derber Details, aber ganz ohne verklärende Nostalgie. Zum Respekt vor der doppelten Lebensleistung des Vaters, der in Gera ein gut situiertes Leben aufgab, um in Aachen, Frankfurt und Wuppertal wieder ganz unten anzufangen, konnte sich der aufbegehrende Sohn erst mit den Jahren durchringen.
Die Angst übersetzt in barocke Satzgirlanden
„Diese Miefigkeit“, Klaus Weise meint die mittleren 1960er, „war erstickend. Deshalb war die Popkultur auch so wichtig für mich.“ So heißt es in einem dieser weit ausholenden Wutreden des jugendlichen Underdog im Metzgershaushalt: „Keiner meiner Verächter kannte die Filme von Hitchcock, Godard, Kubrick, Fellini, den neuen deutschen Film oder die Oberhausener Kurzfilmtage.“
Klaus Weise ist gespannt auf sein Publikum
Erschienen ist Klaus Weises „Sommerleithe“, untertitelt „Wortbegehung einer Kindheit“, im münsterländischen Elsinor Verlag, 2006 in Coesfeld gegründet. Programmatisch sieht sich der Verlag auf „Seitenwegen“ der Literatur: Gemeint sind lesenswerte „Nebenwerke“ renommierter Autoren, auch Klassiker von Rang, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. Für sie beauftragt Elsinor-Gründer Dr. Thomas Pago auch Neuübersetzungen. „Sommerleithe“ hat 310 Seiten und kostet 24 Euro, ISBN 978-3-939483-57-1.
Gefragt nach einer Lesereise, sobald diese wieder möglich wäre, sagt Klaus Weise: „Ja, unbedingt!“ Er sei gespannt auf sein Publikum. Schließlich stecken in „Sommerleithe“ höchst unterschiedliche Kapitel: von tagträumerisch bis brutal, von komisch bis erotisch.
Für den Gymnasiasten war das Theater eine Zuflucht – zumal das Theater von Günther Büch, mit Schillers „Räubern“ auf Mopeds und dem „Beat-Poeten“ Peter Handke. Doch von Macht und Magie des Schauspiels erzählt Klaus Weise in „Sommerleithe“ nur in einer köstlichen „Struwwelpeter“-Szene, in der er – wie so oft in diesem Roman – die Angst des Kindes in ebenso barocke wie soghaft lesbare Satzgirlanden verwandelt.
Sein Erleben dieser persönlichen Wendezeit aufzuschreiben, nennt der Theatermacher „eine unglaubliche Freude“. Das zeitlebens „wie in einem Riesenarchiv Abgespeicherte“ sei ihm wieder zur Gegenwart geworden. Ganz konsequent habe er sich „täglich von 8 bis 12“ an seinen Schreibtisch zurückgezogen – und meinte, wieder im Garten an der Geraer Sommerleithe zu stehen.
Zwischen Kaffeetafel und Schlachthaus
Jede „Verkindlichung“ der Sprache hat der Autor, der seinen 310-Seiten-Text eine „Wortbegehung“ nennt, tunlichst vermieden: Er gehe „zurück in die Jugend“. Aber er erzählt davon mit einer sehr erwachsenen Sprachmacht. Klaus Weise bringt sein wie ein Kaleidoskop – zwischen Kaffeetafel, Schlachthaus und dem Schlafzimmer der Nachbarin – farbensprühendes Werk so auf den Punkt: „Das Sprunghafte, Assoziative – das ist die Erinnerung.“
Porträts und prägende Epochen aus 100 Theater-Jahren
So präsentierten wir 100 Jahre Theater Oberhausen in Rückblicken und Porträts:
https://www.waz.de/staedte/oberhausen/100-jahre-unruhezeiten-am-theater-oberhausen-id227984257.html