Oberhausen. In der 100-jährigen Historie des Theaters wirbelte keine wie Vera Skoronel: Frisch von der Wigman-Schule etablierte sie 1924 den abstrakten Tanz.
Inzwischen verweisen Feuilletons wie Wirtschaftsmagazine beim Stichwort „Goldene Zwanziger“ dunkel dräuend auf die Weltwirtschaftskrise von 1929. Beim Start ins neue Jahr war das noch ganz anders: Da verglich man gerne die anbrechenden 2020er mit der mondänen Welt von Charleston, Jazz und Expressionismus und jenem verruchten Tingeltangel, wie ihn „Babylon Berlin“ so todschick in Szene setzte. Dass einige Takte dieses großen Aufruhrs der 1920er auch in der hundertjährigen Oberhausener Theatergeschichte mitschwingen – dafür sorgte eine damals gerade erst 18-jährige Blitzstarterin.
Vera Skoronel aus Zürich durcheilte in ihrem nur 25-jährigen Leben eine Karriere, wie sie vielleicht nur in jenen wilden Aufbruchzeiten zwischen Inflation und dem gewaltigen Börsencrash des „schwarzen Donnerstag“ möglich war. Das behütete und früh protegierte Kind aus einem zugleich großbürgerlichen und sozialistischen Elternhaus hieß eigentlich Vera Lämmel. Ihr Vater Rudolf zeichnete sich aus als Reformpädagoge – und später als Autor des frühen Standardwerkes „Der moderne Tanz“, der auch das Oberhausener Schaffen seiner Tochter ausgiebig würdigen sollte. Veras Mutter Sonja war die Tochter des frühen russischen Sozialisten Pawel Borissowitsch Axelrod, der in seinem Schweizer Exil in der Doppelrolle als Revolutionär und Unternehmer lebte.
„Ausschließlich dem modernen Tanz verpflichtet“
Deutsch-russisch ist auch der Künstlername Skoronel, den das rasant-tanzfreudige Mädchen aus den Worten für „schnell“ beider Sprachen zusammensetzte. Als 16-Jährige war Vera Skoronel bereits Elevin bei der damals ersten Adresse des rhythmisch-expressiven Ausdruckstanzes, der nach dem ersten Weltkrieg seine erste Blüte erlebte: bei Mary Wigman (1886 bis 1973) in Dresden. Veras Vater Rudolf Lämmel nannte die Tochter in seinem großen „Tanz“-Werk „die bedeutendste Tanzdichterin, die aus der Wigmanschule hervorgegangen ist“. Und Oberhausens Theaterchronist Gerd Lepges wählte jenen Vergleich, der sich Liebhabern der heutigen Tanzszene sofort erschließt: Man könne die Position Skoronels „ohne Übertreibung mit der von Pina Bausch vergleichen“.
Willy Grunwald war 1924 der Intendant und das Theater Oberhausen ein Dreispartenhaus in drei Städten, verbunden mit Hamborn und Gladbeck. Er engagierte die gerade 18-jährige Vera Skoronel als Leiterin einer eigenen Troupe aus 15 Tänzerinnen und Tänzern – handverlesen von der jungen Wigman-Absolventin. Ihre Favoriten aus der Dresdner Schule nahm Skoronel gleich mit nach Oberhausen. Zudem gab’s ein Extra-Privileg für die Tanz-Neuerin: Anders als in den meisten Häusern üblich, musste ihre Gruppe keine Opern- oder Operetten-Produktionen aufhübschen, sondern sah sich ausschließlich „dem modernen Tanz verpflichtet“.
„So darf unsere Tanzgruppe uns übermütig machen“
Und der fand auch fern von „Babylon Berlin“ eine enorm positive Resonanz: Dabei war die 18-jährige Ballettchefin eine strikte Verkünderin des „abstrakten Tanzes“, der sich vom klassischen Handlungsballett so weit wie möglich entfernen wollte. Doch die hohe Qualität dieser neuen Bewegungsschule war wohl schon in der ersten „Tanzaufführung“ im Oktober 1924 offensichtlich: „Wenn unser Stadttheater unser Stolz bedeutet“, jubelte der Rezensent des General-Anzeiger, „so darf unsere Tanzgruppe uns übermütig machen“. Der Kritiker der Ruhrwacht gestand allerdings auch sein Scheitern an dieser ganz neuen Kunstform: „Vielleicht geht mir hier das Begriffsvermögen ab.“
Mit dem Pathos der Zeit, aber sicher am gekonntesten beschrieb Rudolf Lämmel die Oberhausener Choreographien seiner Tochter – etwa „Das Quadrat“, das mit einem Solo von Skoronel eröffnet: „Es wird lautlos und dunkel auf der Bühne und bei wieder einsetzender Beleuchtung steht hinten groß und ragend eine starre Mauer von Menschenleibern, während die Skoronel im Vordergrund am Boden liegt.“ Es liest sich, als schilderte er einen Moment des noch heute getanzten „Sacre du printemps“ des Hamburg Ballett von John Neumeier.
Kurz vor der Gründung ihrer eigenen Dresdner Schule gastierte im November 1924 Gret Palucca, die berühmteste Wigman-Schülerin, in Oberhausen. So schnell hatte die Industriestadt einen Ruf als Kultstätte des modernen Tanzes etabliert. Und so schnell war alles zerstoben.
Theater-Chronik: Oberhausens kurze Ballett-Blüte
1920: Im einstigen Gasthaus „Wilhelmshöhe“, jetzt „Saal der Bürgergesellschaft“, startet am 15. September das Theater Oberhausen mit Franz Grillparzers Liebestragödie „Sappho“.
1921: Unter Kapellmeister Bruno Weyersberg etabliert sich ein eigenes Orchester. Zur zweiten Spielzeit findet sich ein neues Ensemble für Sprech- und Musiktheater zusammen.
1922: Treue Theatergänger gründen die ersten Besucherorganisationen „Bühnenvolksbund“ und „Freie Volksbühne“.
1923: Das Stadion wird während des Sommers zur Freilichtbühne (nachdem es schon 1914 im Kaisergarten eine erste Freilicht-Saison gegeben hatte).
1924: Gründung des „Drei-Städte-Theaters“ im Verbund von Oberhausen mit Hamborn und Gladbeck. Intendant Willi Grunwald verpflichtet mit Vera Skoronel erstmals eine Tanztruppe.
1925: Die Theatergemeinschaft wird zum finanziellen Fiasko, Oper und Tanzgruppe abgebaut. Erst 1930, inmitten der Weltwirtschaftskrise, baut Oberhausen wieder ein Ensemble für Operette und Oper auf.
Denn der Etat des Drei-Städte-Theaters geriet noch während der Spielzeit 1924/’25 völlig aus den Fugen. Für ihre selbst in den Standfotos eindrucksvolle Produktion „Das Tanzspiel“ stand Vera Skoronel nur noch eine Resttruppe zur Verfügung: Die Verträge der Tänzerinnen und Tänzer wurden noch während der zweiten Spielzeithälfte nach und nach abgewickelt. So sollte es immer wieder zum Schicksal der meist kurzlebigen Ballett-Formationen in Oberhausen werden.
Schallendes Motto: „Liebe und Trompetenblasen“
Vera Skoronel gab noch einmal, im Dezember 1929, ein Gastspiel unter dem schallenden Motto „Liebe und Trompetenblasen“, nun als Co-Chefin ihrer Berliner Tanzgruppe mit Berthe Trümpy. Die Schöpferin eines gegenrhythmischen Bewegungs-Repertoires, wie es erst Jahrzehnte später im Jazz Dance populär wurde, starb mit nur 25 Jahren 1932 in Berlin.