Mülheim. Journalist Jörg Böckem war zeitweise so weit unten, dass er im Büro unterm Schreibtisch sein Heroin köchelte. Seine Botschaft an Mülheims Jugend.

Jörg Böckem wuchs in einer gutbürgerlichen Familie auf. Seine Eltern stammten aus einfachen Verhältnissen und träumten von einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Sie kümmerten sich liebevoll um ihre Kinder, die es besser haben sollten, mit Abitur und Studium. Doch Jörg Böckem wollte selbst herausfinden, was er werden wollte und nicht nur die Erwartungen seiner Eltern erfüllen. „Das ist nicht mein Leben!“, soll er ihnen entgegnet haben. Er suchte nach Extremen außerhalb der Straßen seines kleinen Dorfes.

Dezember 1999. In seinem Büro des „Spiegel“-Gebäudes in Hamburg sitzt Jörg Böckem Schweiß überströmt an seinem Schreibtisch. Seine rechte Hand hält ein Feuerzeug, die linke einen rußgeschwärzten Suppenlöffel mit brauner Flüssigkeit. Unter der Tischplatte köchelt sein Heroin vor sich hin. Einige seiner Kollegen vermuten, dass er an einer Spielsucht oder einer Esstörung leidet, er ist ja während der Mittagspause nie in der Kantine. Doch in seiner Pause versteckt er sich auf der Toilette. Wenn eine Vene noch nicht komplett zerstört ist, spritzt er sich einen Moment der Ruhe, um die Schmerzen, den Aufruhr und die Angst zu betäuben.

Cannabis bei Jugendlichen: Bevormundung sei sinnlos

Schüler und Schülerinnen der Oberstufe des Gymnasiums Broich in Mülheim verfolgen gespannt die Lesung des Journalisten Jörg Böckem.
Schüler und Schülerinnen der Oberstufe des Gymnasiums Broich in Mülheim verfolgen gespannt die Lesung des Journalisten Jörg Böckem. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Seit 2001 ist Jörg Böckem clean. Es bedurfte mehrerer Therapien und Rückfälle, bis er zu dem Menschen wurde, der er heute ist. Er schreibt für „Die Zeit“ und „Der Spiegel“, aber bekannt wurde er vor allem durch seine Autobiografie, in der er von seiner Heroinsucht erzählt. Heute engagiert er sich durch Lesungen in Schulen, um junge Menschen frühzeitig zu erreichen. Was seine Lesungen besonders machen, ist vor allem seine Ehrlichkeit. Dieses Mal ist er am Gymnasium Broich. Besonders besorgt sind die Lehrkräfte und Schüler hier wegen der Drogenszene in Mülheim, die bereits fünf junge Menschen aus dem Leben gerissen hat.

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Der Journalist nimmt auf der Bühne an einem Schultisch Platz, während das Licht um ihn herum gedimmt wird. Mit ruhiger Stimme liest er unbefangen Auszüge aus seinen beiden Büchern „High sein“ und „Lass mich die Nacht überleben“ vor. Er erzählt von der Serie „Breaking Bad“ und von seinen Jugendidolen wie Iggy Pop oder David Bowie. Drogen, sagt er, können sich großartig anfühlen, aber auch schlagartig zum Zerfall führen. Er betont auch, dass der Erstkonsum von Cannabis häufig im Jugendalter stattfindet. Bevormundung sei sinnlos.

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Als der 58-Jährige Auszüge aus „Lass mich die Nacht überleben“ vorliest, tauschen die Schüler gelegentlich Blicke aus – sei es wegen Böckems unverblümter Art oder weil sie von seinen Erzählungen schockiert sind. Aber die Distanz zwischen ihm und den Schülern ist schnell überwunden. Als die Fragerunde beginnt, zögern die Schüler kaum, um persönliche Fragen zu stellen: „Haben Ihre Kollegen etwas mitbekommen?“ „Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihren Eltern?“ „Wie haben Sie den Drogenkonsum finanziert?“ „Hatten Sie schonmal einen Bad Trip (Horrortrip)?“ Böckem geht ausführlich auf jede Frage ein, teilt seine Erfahrungen aus der Strafzelle in Amsterdam, spricht über seine Schulden beim Finanzamt und seine schlimmste Psychose.

„Die Schüler, die an den Mischdrogen gestorben sind, sind uns schon sehr nahe gegangen“, erzählt Schülerin Sophia (17). Vor der Lesung habe man sich untereinander ausgetauscht, man kannte vielleicht Geschwister oder Freunde von Freunden, die Opfer einer Überdosis geworden sind. André (16) war nicht wirklich überrascht, als er von den Todesfällen hörte. Doch umso mehr beunruhigen ihn die großen Stimmen in den sozialen Medien, die sich für die Teillegalisierung von Cannabis aussprechen, die am 1. April in Kraft getreten ist. „Die behaupten, dass sie ihren Konsum unter Kontrolle haben. Aber ich finde, die Auswirkungen werden einfach unterschätzt“, sagt der Schüler.

Prohibition oder Entkriminalisierung? Mülheimer Schüler stellen Fragen

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„Prohibition kann den Konsum bestimmter Drogen nicht verhindern, das hat sie noch nie geschafft.“
Jörg Böckem - Journalist & Ex-Heroinabhängiger

In einer Plenumsdiskussion werden zusätzliche Experten der psychosozialen Beratung, der Kriminalpolizei Essen und der Ratinger Schwarzbachklinik hinzugezogen. Ein Schüler spricht direkt die Frage an, auf die sich Böckem besonders gefreut hat: „Prohibition oder Entkriminalisierung?“ „Prohibition kann den Konsum bestimmter Drogen nicht verhindern, das hat sie noch nie geschafft“, betont Böckem. „Wenn einer von euch ein Drogenproblem hat, ist die Hürde, sich Hilfe zu holen, natürlich viel höher, wenn man Angst haben muss, für seine Tat in den Knast zu gehen.“ Auch argumentiert Böckem, dass der Eintrag im Strafregister vor allem jungen Menschen die Zukunft verbaue. „Sich in kriminellen Bereichen zu bewegen ist nicht nur unangenehm, sondern auch gefährlich für Leib und Leben.“

Die Diskussion über die Auswirkungen der Teillegalisierung von Cannabis gewinnt an Fahrt. „Zwischen gut gemeint und gut gemacht besteht ein Unterschied. So wie es jetzt gemacht wurde, ist es nicht gut gemacht“, meint Sebastian Winkelnkemper, Arzt an der Schwarzbachklinik in Ratingen. Für ihn sind die gefährlichsten Einstiegsdrogen klar: Nikotin und Cannabis. Vor allem ist entscheidend für ihn, dass Cannabis die einzige Droge sei, die zu zwei verschiedenen Zeitpunkten wirke. „Anfangs führt der Konsum zu einem Rauschzustand, aber nach zwei bis drei Tagen können Unruhe, Anspannung und Ängste auftreten. Was haben wir vorher gelernt? Ich kiff‘ mich runter. Das erklärt, warum man in diesem Kreislauf bleibt und warum Cannabis die einzige Droge ist, bei der mit steigendem Reinheitsgehalt eine höhere Dosierung konsumiert wird“, erklärt der Arzt.

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„Die Teillegalisierung hat definitiv ihre Schwächen, aber ich finde, es ist der richtige Weg“, meint Böckem. Wichtig sei, so einigen sich die Experten, die eigene Toleranz zu kennen und sich über die Wirkung der Drogen zu informieren. Dies sei auch entscheidend, um einem Freund zu helfen, der mit seiner Sucht kämpft. „Man kann Hilfe anbieten, aber ob diese Hilfe angenommen wird, ist eine andere Sache“, erklärt Böckem. „Da hilft es nur, auf sich selbst zu achten.“

„Bei diesem Thema gibt es keine Schuld, nur Faktoren“, erklärt Böckem. Oft versuche man, die Schuld bei etwas oder jemandem zu suchen, um zu erklären, warum Menschen in eine Sucht geraten. Es komme oft vor, dass Drogenabhängige Missbrauchserfahrungen gemacht haben, aber die Erfahrung mit Drogen oder Sucht sei eine rein individuelle. Böckem sei in einem guten Elternhaus aufgewachsen, ohne Missbrauch oder Gewalterfahrungen. „Jugendliche tragen viele schwere Gefühle mit sich. Ihr seid sehr risikobehaftet, daher ist es nicht hilfreich, euch zu bevormunden, sondern mit euch in den Dialog zu treten und Erfahrungen zu teilen. Ich wünschte, das hätte es für mich gegeben.“

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