Mülheim. Eine Krise reiht sich an die vorherige: Arbeitsagentur und Jobcenter ziehen nun für Mülheim eine Bilanz für 2022. Wie der Arbeitsmarkt dasteht.

Im Einfluss der Corona-Pandemie, den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine und Fachkräfte-Engpässen steht der Arbeitsmarkt in Mülheim. Arbeitsagentur und Mülheimer Jobcenter legten nun ihre Jahresbilanz vor, die Probleme aufzeigt, aber auch ein paar Signale der Hoffnung beinhaltet. Die Einzelheiten.

Beschäftigung. Eine positive Entwicklung hat die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs in Mülheim genommen. Von März 2021 bis März 2022 (aktuellere Zahlen kann die Agentur für Arbeit nicht präsentieren) stieg die Zahl der Beschäftigten in Mülheim um 1388 Personen auf 60.648 Menschen, das entspricht einem Plus von 2,3 Prozent. In den Jahren seit 2017 weist die Statistik keinen höheren Wert auf – trotz des massiven Stellenabbaus in der jüngeren Vergangenheit in Mülheims Industrie. Männer profitierten stärker als Frauen von der Entwicklung. Sie besetzen weiter 56,3 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Jobs. Der Job-Zuwachs sei „breit gestreut“ und nicht auf einzelne Großansiedlungen zurückzuführen, so Agentur-Chef Jürgen Koch.

Mülheims Agentur-Chef: Erste Quartal wird zeigen, ob eine Arbeitsmarkt-Krise droht

Arbeitslosigkeit. Die offizielle Zahl an arbeitslosen Mülheimerinnen und Mülheimern ist nach zwei Jahren des Anstiegs im Jahr 2022 gesunken. 7062 Arbeitslose weist die Statistik aus (Quote: 8,2 Prozent) und einen Rückgang um 3,9 Prozent. Mehr als sieben von zehn Arbeitslosen haben laut Agentur für Arbeit keine abgeschlossene Berufsausbildung. „Viel politisches Wirken“ habe den Arbeitsmarkt stabil gehalten, so Koch, der nach eigener Anschauung mit Kriegsausbruch in der Ukraine eine ganz andere Entwicklung befürchtet hatte. Auch das Instrument der Kurzarbeit erweise sich weiter als hilfreich, durch Krisen zu kommen. Koch glaubt, dass sich nun im ersten Quartal des neuen Jahres zeigen wird, ob Deutschland eine tiefgreifende Krise am Arbeitsmarkt droht. Insbesondere blicke er mit Sorge auf kleinere Betriebe, wie diese über den Winter kämen.

Tatsächlich aber ist die Zahl der Mülheimer ohne regulären Job am ersten Arbeitsmarkt im dritten Jahr in Folge gestiegen, das verschweigt die politisch modellierte offizielle Arbeitslosenzahl. Deutlich wird das an den Zahlen zur Unterbeschäftigung, in denen etwa auch Menschen aufgeführt sind, die an einer der zahlreichen Arbeitsmarktmaßnahmen teilnehmen, zur Förderung an private Dienstleister weitergereicht sind oder gar wegen ihres fortgeschrittenen Alters aus der offiziellen Statistik gestrichen werden. Nimmt man all diese Personen dazu, wird ersichtlich, dass die Probleme am heimischen Arbeitsmarkt weitaus gravierender sind. Mehr als jeder zehnte Erwerbsfähige hat keinen regulären Job, 9482 Mülheimer sind betroffen (Quote: 10,8 Prozent). Vor drei Jahren waren es noch 561 Menschen weniger.

Personalsituation in Mülheims Jobcenter „nicht dramatisch, aber „noch angespannt“

Koch, aber auch Oliever Vrabec als Leiter des Mülheimer Jobcenters sehen in der wachsenden Differenz zwischen offizieller und tatsächlicher Arbeitslosenzahl aber auch etwas Gutes. Deutlich verstärkt habe man das Engagement, um Menschen wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Es hat laut Zahlen der Agentur im Vorjahr 12,2 Prozent mehr Maßnahmen zur „Aktivierung und beruflichen Eingliederung“ gegeben, die Zahl der Ein-Euro-Jobs sei um gut 72 Prozent gestiegen, die am Programm des Teilhabechancengesetzes um 13,9 Prozent. Zur Wahrheit gehört aber auch: Um je fast 20 Prozent rückläufig sind Maßnahmen mit einem Beschäftigungszuschuss und zur beruflichen Weiterbildung.

Langzeit-Arbeitslosigkeit.Nach starken Steigerungen in den Jahren 2020 und 2021 ist die Zahl der Menschen, die ein Jahr und länger arbeitslos sind, um 3,6 Prozent auf 3919 Personen gesunken. Das Niveau aber bleibe hoch, so Koch und Vrabec. Der Jobcenter-Chef sagt, dass über 70 Prozent seines Klientels fest in der Langzeitarbeitslosigkeit verharrten, „sehr weit vom Arbeitsmarkt entfernt“ seien und ohne Berufsausbildung dastünden. Man setze daher den Fokus darauf, diesen Menschen einen ersten von vielen nötigen Schritt Richtung Arbeitsmarkt zu ermöglichen. In dieser Hinsicht sei das Jobcenter 2022 um einiges vorangekommen. Mit dem neuen Bürgergeld seien weitere Verbesserungen in der Qualifizierung möglich. Die Personalsituation im Jobcenter habe sich „leicht entspannt“. Sie sei aber „noch angespannt“, weil Stellen teils dreimal ausgeschrieben werden müssten. So seien auch die Betreuungsquoten immer noch hoch (Klienten, die ein Jobcenter-Mitarbeiter zu betreuen hat), die Situation sei aber weniger dramatisch als zuvor.

Vermittlung von ukrainischen Flüchtlingen in Jobs gestaltet sich schwierig

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Jugend-Arbeitslosigkeit. Die Quote betrug 5,8 Prozent, im Vergleich zu anderen Ruhrgebietsstädten ist das immer noch ein sehr guter Wert, wenn auch die Jugendarbeitslosigkeit im gesamten Ruhrgebiet im Vorjahr stärker rückläufig war als in Mülheim, wo Ende des Jahres 285 der 15- bis 25-Jährigen als arbeitslos galten.

Ausländer-Arbeitslosigkeit. Hier sind die Zahlen seit 2019 rapide angestiegen. Auch 2022 stieg die Zahl der arbeitslosen Migranten um noch einmal 4,7 Prozent auf 3302 Personen. Für Koch liegt eine wesentliche Ursache in der Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine, die seit Mitte des Vorjahres als Arbeitslose geführt werden und gleich hundertfach (579 Ende Dezember) auf einen Job hoffen. Die Sprachbarriere mache eine schnelle Vermittlung schwer, ebenso das Problem der Kinderbetreuung der meist allein nach Deutschland gekommenen Frauen, so Koch. Die Wartezeiten für Sprachkurse seien lang. Man sei noch weit entfernt davon, bei den zugewanderten Menschen aus der Ukraine von „Fachkräften für morgen“ sprechen zu können.

Mülheim: Freie Stellen auf niedrigem Niveau wie kaum zuvor

Freie Stellen. Die Zahl der Stellen, die Unternehmen zur Besetzung gemeldet haben, könne durchaus als Indiz für eine Krise herhalten, sagt Koch. Nur in den Krisenjahren 2009/10 (Finanzkrise) und 2020 (Corona) standen weniger Jobs zur Vermittlung zur Verfügung als im vergangenen Jahr. Zum Vergleich: Im Rekordjahr 2017 meldeten Mülheimer Arbeitgeber 5137 offene Stellen zur Vermittlung, im vergangenen Jahr waren es fast 2000 weniger. Gleichwohl blieben am Ende des Jahres noch 1311 Stellen unbesetzt.

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Fachkräfte-Mangel. Fachkräfte-Engpässe gebe es mittlerweile „in fast allen Bereichen“, stellt Agentur-Chef Koch fest. Am stärksten seien die Bedarfe im Maschinenbau und in der Betriebstechnik, längst seien geeignete und willige Bewerber auch rar etwa im Gartenbau oder im Einzelhandel – und da nicht nur in den klassischen Bereichen wie im Metzger- oder Bäcker-Handwerk, sondern auch im Mode- oder im Kfz-Handel. Es dauere aufgrund des Mangels an geeigneten Bewerbern auch zusehends länger, die Stellenangebote zu bedienen.

Zuwanderung sei nur ein Baustein zur Problemlösung, sieht Koch hier zweierlei Probleme: Einerseits ziehe man mit einer solchen Strategie Arbeitskräfte aus Ländern ab, die ebenso Bedarf hätten. Andererseits sei die deutsche Bürokratie noch viel zu schwerfällig, etwa ausländische Ausbildungen anzuerkennen. Qualifizierung von deutschen Arbeitslosen bleibe ein wichtiger Baustein. Gegen den Fachkräfte-Mangel könne auch die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung helfen, die den Fachkräftebedarf deutlich spürbar sinken lasse.

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