Mülheim. Der Online-Supermarkt Picnic schafft in Mülheim massenhaft Jobs, zahlt über Mindestlohn. Da irritiert die heftige Kritik eines Mitarbeiters.
Der Online-Supermarkt Picnic fährt mit seinen kantigen Lieferwagen klar auf Expansionskurs. Vor allem im Ruhrgebiet sind in jüngster Zeit große Investitionen angekündigt, neue Lager oder Verteilzentren aufgezogen worden. So etwa in Bottrop, in Oberhausen, in Mülheim-Styrum, stets verbunden mit dem Versprechen, Hunderte neuer Arbeitsplätze zu schaffen.
An der Neustadtstraße in Mülheim-Styrum wurde vor wenigen Monaten ein besonders geräumiger Umschlagplatz für Supermarktwaren in Betrieb genommen. Nach Auskunft von Frederic Knaudt, Mitgründer von Picnic Deutschland, arbeiten hier schon mehr als 200 Personen: Shopper (Lagerarbeiter), Teamleiter, Schichtleiter. „Unser Ziel ist es, in den nächsten Monaten und Jahren mehr als 300 Jobs zu schaffen“, sagt Knaudt. Mülheims Oberbürgermeister Marc Buchholz hatte die „Vielzahl neuer Arbeitsplätze in einer wachsenden modernen Branche“ bei seinem Eröffnungsbesuch lobend hervorgehoben.
Picnic wirbt um Personal, auch für das neue Mülheimer Verteilzentrum
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Auf der Website von Picnic wird offensiv um Personal geworben, Kurierfahrer oder Lagerarbeiter. „Werde Produktionshelfer bei Picnic“, steht dort unter einem Foto mit strahlenden jungen Leute in knallroten Shirts. „Starte noch diese Woche und verdiene 12,04 Є pro Stunde“. Weitere Versprechen lauten: „Teilzeit oder Vollzeit - Du entscheidest, wie viel du arbeiten willst. „Arbeite, wann es dir passt. Wir berücksichtigen deine Verfügbarkeiten.“ Außerdem: tolles Team, Essen in der Kantine, Karrieremöglichkeiten.
Von diesen Versprechungen hat sich vor einigen Monaten auch ein junger Mann anlocken lassen, der dringend auf der Suche nach Arbeit war, „einfach nur wegwollte vom Jobcenter“. Es hat dann auch rasch geklappt mit dem neuen Job. Den Vertrag schloss er allerdings nicht mit dem Unternehmen Picnic, sondern mit einer Zeitarbeitsfirma, Cichon Personalmanagement.
Versprochener Stundenlohn mindestens 12,04 Euro - Picnic stockt auf
Laut Arbeitsvertrag wird der Mitarbeiter als „Helfer-Lager/Transport“ eingestellt, und zwar unbefristet. Als „individuelle, regelmäßige monatliche Arbeitszeit“ sind exakt 151,67 Stunden vereinbart. Und während Picnic einen Stundenlohn von 12,04 Euro verspricht, ist im Arbeitsvertrag nur von einer Grundvergütung von 10,45 Euro pro Stunde die Rede - allerdings: „ungeachtet etwaiger Branchenzuschläge“. Den Rest bezahlt Picnic, so die Zusage.
„Jeder, der im Lager arbeitet, bekommt mindestens 12,04 Euro“, versichert Mitgründer Frederic Knaudt. In den Arbeitsverträgen fixiert sind 10,45 Euro gemäß BAP/DGB-Tarifvertrag für Zeitarbeitnehmer. Auf den Lohnabrechnungen erscheinen dann pro Stunde 1,16 Euro mehr - als „freiwillige einsatzbezogene Zulage“.
Viele Beschäftigte sind bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt
Ob der Arbeitsvertrag direkt mit Picnic geschlossen wurde oder mit einer Zeitarbeitsfirma, spiele keine Rolle, so Knaudt. „Es gibt keinen Unterschied in puncto Bezahlung, Urlaubsregelung oder Aufstiegschancen.“ Da Picnic kräftig expandiere, arbeite man mit Personaldienstleistern vor Ort zusammen. „Wir wollen aber verstärkt auf der Basis von Picnic-Verträgen einstellen“, sagt der Deutschlandchef des Unternehmens. Mehrere hundert Mitarbeiter hätten schon einen solchen Vertrag.
Dennoch hat sich jetzt ein junger Picnic-Beschäftigter (Name der Redaktion bekannt) aus dem Mülheimer Lager mit grundlegender Kritik an diese Redaktion gewandt. Er hat eine Vollzeitstelle, wie etwa drei Viertel der Mitarbeitenden im Styrumer Verteilzentrum. Aber er sagt, es sei schwierig, auf die vereinbarte Arbeitszeit, die erhoffte Bezahlung, zu kommen.
Mitarbeiter kritisiert: Häufig vorzeitig nach Hause geschickt
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„Wenn nichts mehr zu tun ist, werden wir nach Hause geschickt“, behauptet der Mitarbeiter. Aktuell jeden Tag, teilweise drei oder vier Stunden vor dem regulären Schichtende. „In den letzten beiden Wochen bin ich nicht über 30 Stunden gekommen.“ Es müssten aber 35 sein, um am Monatsende auf 1826 Euro brutto zu kommen, netto rund 1400 Euro.
Von den Führungskräften im Verteilzentrum werde man angespornt, schneller zu arbeiten, „aber warum sollen wir schneller arbeiten, wenn wir dann nach Hause geschickt werden?“, fragt der junge Mann. Er mache sich Sorgen, wie er finanziell über die Runden kommen soll, will seine Eltern nicht mehr um Geld bitten. „Alles ist teurer geworden...“
„Bis zu sieben Samstage in Folge gearbeitet“
Der Mitarbeiter hat weitere Kritikpunkte: So würden aktuell nur noch Teilzeitkräfte eingestellt oder Vollzeitverträge reduziert. Auch die Verteilung der Arbeitszeit läuft nach seiner Erfahrung keineswegs optimal: Statt, wie zugesagt, in wechselnden Schichten und nur jeden zweiten Samstag zu arbeiten, habe er Spät- und Wochenenddienste in Serie: „Ich habe schon sieben, einmal sogar elf Samstage in Folge gearbeitet.“ Man könne Verfügbarkeiten angeben, doch das System sei kompliziert, und werde nicht hinreichend erklärt. Sein härtester Vorwurf: „Wer den Mund aufmacht, dem wird gekündigt.“ Viele seien so unzufrieden wie er, hätten aber nicht den Mut, sich offen zu äußern.
Beim Vor-Ort-Besuch im Mülheimer Picnic-Zentrum zeigen sich die Führungskräfte von den Vorwürfen überrascht und betroffen: die Firmengründer Frederic Knaudt und Manuel Stellmann, Personalchefin Sandra Lehmann, Picnic-Sprecher Richard Streck, Standortleiter Alexander Aufmuth - alles offene, junge Leute, denen man den Willen, faire Arbeitsbedingungen zu schaffen, abnimmt. „So etwas passt nicht zu uns“, sagt Stellmann. „Jeder hat ein Arbeitszeitkonto“, erklärt die Personalleiterin, „und bekommt die Möglichkeit, früher zu gehen, wenn wenig zu tun ist.“ Gezwungen würden die Leute nicht.
Für die Abrechnungen sei die Firma Cichon zuständig: „Die Arbeitsstunden werden von uns durchgereicht und vom Dienstleister kontrolliert“, so Sandra Lehmann. Die Zeitarbeitsfirma habe permanent einen Vertreter vor Ort im Verteilzentrum. Auch Picnic selber sei jederzeit für Rückfragen erreichbar: „Wir gehen aktiv mit unseren Leuten ins Gespräch.“
Cichon-Geschäftsleitung: Vereinbarte Stunden werden garantiert bezahlt
Ähnlich äußert sich Christoph Laux aus der Cichon-Geschäftsleitung: „Die Beschäftigten haben an den Standorten direkte persönliche Ansprechpartnerinnen und -partner, um Fragen zu klären.“ Vertraglich sei eine garantierte monatliche Arbeitszeit festgelegt. Daneben gebe es ein Arbeitszeitkonto, „um temporäre Schwankungen im Arbeitsaufkommen unserer Kunden zu erfassen“, so Laux. Er versichert: „Die Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter können sich darauf verlassen, dass sie entsprechend der vereinbarten Arbeitszeit monatlich bezahlt werden. Mehr geleistete Arbeit wird natürlich ebenso vergütet.“
Wenn an einzelnen Tagen wenig zu tun ist, könnten die Kunden das Personal auch vor dem Schichtende nach Hause schicken. Sollte es wegen wiederholter Schichtabbrüche nicht möglich sein, die vereinbarte Arbeitszeit zu erreichen, werde das Arbeitszeitkonto aktiviert, erläutert der Geschäftsleiter der Zeitarbeitsfirma, und fügt hinzu: „Entsteht in einer solchen Situation Unzufriedenheit, sind wir als Arbeitgeber stets auf Feedback angewiesen, um schnellstmöglich und unkompliziert eine Problemlösung herbeizuführen.“
Picnic-Mitgründer: „Uns ist es sehr wichtig, ein guter Arbeitgeber zu sein“
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Für Picnic stellt Frederic Knaudt klar: „Im Lager garantieren wir, dass 35 Stunden in der Woche bezahlt werden.“ Bei der Schichteinteilung hätten die Leute persönliche Präferenzen, „und darauf gehen wir auch ein“. Beschäftigte schlecht zu behandeln, könne man sich gar nicht leisten, meint der Picnic-Deutschland-Chef: „Im heutigen Arbeitsmarkt, der heiß umkämpft ist, auf dem Fachkräfte fehlen, ist es uns sehr wichtig, dass wir ein guter Arbeitgeber sind. Dass die Menschen sich bei uns wohl fühlen.“
Dafür sollen unter anderem die Food-Trucks auf dem Styrumer Firmengelände sorgen, an denen sich die Picnic-Leute - im Zwei-Schicht-Betrieb - kostenlos verpflegen können. Einige Mitarbeiter aus der Frühschicht sitzen zur kurzen Kaffeepause auf Bierbänken. Sie sagen, der Großteil des Teams sei über Zeitarbeit beschäftigt. Dass vertraglich vereinbarte Stunden nicht bezahlt würden, kann aus dieser Runde keiner bestätigen. Tatsächlich laufe das Zentrum aber noch nicht im Hundert-Prozent-Betrieb. Es werde gelegentlich herumgefragt, wer früher nach Hause gehen möchte.
Ein Mann im blauen statt roten Arbeitsoutfit, der seine Position als „Trainer“ bezeichnet, sagt, vereinzelt hätten sich Mitarbeitende beschwert. „Aber alle Stunde werden so bezahlt, wie es im Vertrag steht. Man muss nur selber hinterher sein, dass man die Stunden auch kriegt.“
Gewerkschaft Verdi: Noch keine Klagen über Arbeitsbedingungen bei Picnic
Bei der Gewerkschaft Verdi sind bislang noch keine Beschwerden über die Beschäftigungsbedingungen bei Picnic eingegangen. Er höre zum ersten Mal davon, sagt Kay Lipka, der für den Handel zuständige Gewerkschaftssekretär. Allgemein gelte, dass sich die Mitarbeiter auf die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit berufen können, zumindest auf die entsprechende Bezahlung.
„Picnic Pioneers“ statt Betriebsrat
Picnic Deutschland hat nach eigenen Angaben über 1000 Mitarbeitende, Tendenz steigend, und liefert in 57 Städten aus. Aktuelle Kundenzahl in Mülheim: rund 9000.Am Unternehmen ist die Edeka Rhein-Ruhr beteiligt, es werden auch überwiegend Edeka-Artikel ausgeliefert.Einen gewählten Betriebsrat gibt es nicht, und nach Auskunft von Mitgründer Frederic Knaudt gab es auch noch keine entsprechende Anfrage aus der Belegschaft.Unter dem Titel „Picnic Pioneers“ sei aber eine Mitarbeitervertretung gebildet worden - sie bestehe aus acht Personen, die sich dafür intern gemeldet hätten.Auch sollen im geplanten, sechsköpfigen Aufsichtsrat von Picnic Deutschland zwei Arbeitnehmervertreter sitzen.
„Wer unzufrieden ist, kann sich gerne an uns wenden.“ Ein Gespräch biete er auch Beschäftigten an, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, versichert Lipka. Und: „Was besprochen wird, bleibt vertraulich.“