Mülheim. Aufstieg und Fall waren bei Hannelore Kraft von spektakulärer Natur. Nun verlässt die Mülheimerin, erste Ministerpräsidentin NRWs, die Politik.
Die erste und bislang einzige NRW-Ministerpräsidentin hat die politische Bühne verlassen. Ganz leisen Schrittes hat Hannelore Kraft (SPD) ihre außergewöhnliche politische Karriere mit der Konstituierung des neuen Landtages in dieser Woche hinter sich gelassen. Ein Rückblick.
Vielleicht ist es jener 31. Juli 2010, der der Person Hannelore Kraft am nächsten kommt. In der Duisburger Salvatorkirche nimmt die Ministerpräsidentin neben Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Wulff an der Trauerfeier für die Opfer der Loveparade-Katastrophe teil. Eine Woche zuvor waren 21 Menschen bei einer Massenpanik ums Leben gekommen, mehr als 600 Menschen waren verletzt worden. Kraft war da gerade zehn Tage lang im Amt.
Loveparade-Katastrophe bewegte Hannelore Kraft zutiefst
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In der Salvatorkirche tritt Kraft sichtlich bewegt auf, redet teils mit gebrochener Stimme. Sie ist tief berührt, ihre Worte treffen Satz für Satz das Unfassbare, das die Menschen im Land gerade fassungslos macht. Als Landesmutter findet Hannelore Kraft sieben hochemotionale Tage nach der Katastrophe nicht nur den richtigen Ton. Kraft ist authentisch, so nah bei den Menschen, eine von ihnen – und doch in besonderer Verantwortung.
Seit dem Unglück hat sich Kraft für die Belange der Opfer und Überlebenden der Loveparade eingesetzt. Am zehnten Jahrestag spricht sie im Landtag zur Katastrophe, bittet um „Vergebung“, dass es nicht gelungen sei, im jahrelangen Prozess Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen.
Rückzug aus dem Landtag nach 22 Jahren: Mucksmäuschenstill
An diesem zehnten Jahrestag der Loveparade ist Kraft nicht mehr Ministerpräsidentin des Landes. Nur noch einfache Abgeordnete der SPD, die sich ganz und gar zurückgezogen hat in die hinteren politischen Reihen, die Interview-Anfragen kategorisch ablehnt seit ihrer verlorenen Landtagswahl 2017. Öffentlich äußern zur Landespolitik will sie sich partout nicht mehr, ihre Profile bei Facebook und Twitter hat sie bereits kurz nach ihrer Wahlniederlage gelöscht, sofort auf Dienstwagen, Chauffeur, Büro und Mitarbeiter verzichtet.
So ist die Mülheimerin nun, da sich in dieser Woche der neue Landtag in Düsseldorf konstituierte, mucksmäuschenstill aus dem Politikbetrieb ausgeschieden. Nach 22 Jahren Landespolitik der Rückzug ins Private, mit aller Konsequenz vollzogen. Als wäre sie nie dagewesen.
Mülheimerin war die erste und bislang einzige Frau im höchsten Amt von NRW
Und doch hat Kraft natürlich Marken gesetzt. Als Menschenfischerin hat sie 2010 die Regierung Rüttgers zum Sturz gebracht, ist als erste Frau überhaupt zur Ministerpräsidentin des Landes gewählt worden – zum Start mit einer von der Linkspartei gestützten rot-grünen Landesregierung. 2012 langte es für Kraft und Rot-Grün mit einem triumphalen Wahlergebnis für die absolute Mehrheit. Bei ihrer Wahl zur Ministerpräsidentin erhielt Kraft gar neun Stimmen mehr im Parlament als es Abgeordnete von SPD und Grünen gab.
In Popularitätswerten war Kraft mit ihrem Ansatz der präventiven Sozialpolitik spätestens da auf dem Höhepunkt ihrer politischen Karriere angelangt. Die Kümmerin – eine von vielen Umschreibungen, die ihr Anerkennung zollten. Gefragt in Talkshows, bundespolitisch von Gewicht, von vielen Menschen im Land wegen ihrer unprätentiösen Art gemocht: Hannelore Kraft war dort angekommen, wo sie einst in Mülheim als Unternehmensberaterin gearbeitet hatte: auf dem „Zenit“ ihrer Polit-Karriere. Mancher handelte sie bereits als Kanzlerkandidatin. Kraft winkte ab. Sie wollte ihre Politik weitermachen in NRW.
Kandidatur Krafts war 2000 eine faustdicke Überraschung in Mülheims SPD
Ende der 90er-Jahre hätte die Dümptenerin sich dieses politische Gewicht wohl selbst nicht prophezeit. Krafts politische Laufbahn begann mit einer faustdicken Überraschung. Dass sie überhaupt von Mülheims SPD zur Landtagskandidatin nominiert wurde für die Wahl im Jahr 2000, war eben dies – in einer männerdominierten, durch und durch patriarchalisch auf die örtliche Partei-Ikone Gerd Müller fixierten SPD. Krafts langjähriger parteiinterner Widersacher Bodo Hombach soll, Erzählungen zufolge, mit Rückhalt des gesamten Parteivorstandes seinerzeit alle Fäden gezogen haben, um seinen Kandidaten, den ehemaligen IG-Metall-Chef Uli Dörr, zur sicheren Kandidatur zu bringen.
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Plötzlich tauchte Kraft als Gegenkandidatin auf, seit 1994 überhaupt erst Parteimitglied, keine 40 Jahre alt. „Viele Frauen haben damals Hannelore Kraft unterstützt. Es herrschte eine Stimmung, mal was gegen die alten Männer, gegen das Establishment zu tun. Kraft kam ganz frisch daher“, erinnert sich ein politischer Beobachter jener Tage. Kraft schaffte es. Der parteiinterne Sieg ebnete seinerzeit, als die SPD in Mülheim noch mit sicherem Abstand ihre Wahlsiege einfuhr, gleichsam den Weg in den Landtag.
Kometenhaft ging’s für Kraft weiter. Schon im April 2001 berief sie der SPD-Ministerpräsident als Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten in sein Kabinett, unter Clements Nachfolger Peer Steinbrück blieb Kraft im Kabinett, als Wissenschaftsministerin. Nach der Wahlpleite 2005 bereitete Kraft als Oppositionsführerin erfolgreich die Rückkehr der SPD in die Staatskanzlei im Jahr 2010 vor.
2017 stürzte Ministerpräsidentin Kraft mit ihrer SPD auf ein Rekordtief ab
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Dem Höhenflug folgte 2017 ein wiederum sensationeller politischer Umbruch im Land. Die SPD stürzte ab auf Rekordtief. Kraft unterlag CDU-Herausforderer Armin Laschet, dem noch einige Wochen zuvor kaum jemand Siegchancen eingeräumt hatte. Ein um Richtung ringender, trotz anfänglichem Hype blass bleibender SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz schadete der SPD an Rhein und Ruhr. Aber auch ein NRW-Wahlkampf der Genossen, der zu sehr auf die zwar noch vorhandene, aber gesunkene Popularität Krafts setzte. Der aber keinen inhaltlichen Kontrapunkt zu setzen vermochte zu den Themen, mit denen Laschet und seine CDU durchs Land tourten: NRW als Stauland Nummer 1, das Chaos um G8 und G9 in der Bildungspolitik, Probleme der inneren Sicherheit.
Angesichts offenkundiger Probleme im Land traf der „Wohlfühlwahlkampf“ der SPD nicht den Nerv der Menschen. Auch dass Kraft nach den Ereignissen der Kölner Silvesternacht loyal zu ihrem höchst umstrittenen Innenminister Ralf Jäger gestanden hatte, war vielen im Land unverständlich geblieben.
Freiheit fernab ihrer Bodyguards war Hannelore Kraft stets wichtig
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Kraft übernahm unmittelbar nach der Wahl die Verantwortung für die krachende Niederlage, legte den Vorsitz der Landes-SPD nieder, ebenso den Vize-Vorsitz in der Bundespartei. „Ich habe mein Bestes gegeben. Glückauf“, sagte sie noch am Wahlabend – und zog sich sehr schnell zurück.
Fünf Jahre ist das nun her. Hannelore Kraft hat 2022 noch mal für ihre SPD wahlgekämpft, auch in Mülheim tauchte sie schon mal am Wahlkampfstand von SPD-Kandidat Rodion Bakum auf. Für persönliche Gespräche in ihrem Wahlkreis blieb sie offen, öffentlich äußern wollte sie sich nicht. Seltenst kam mal noch eine politische Erklärung von ihr. Der Rückzug ins Private kommt wie eine Sehnsucht daher bei der Frau, die lange Zeit im politischen Rampenlicht stand, aber sich doch auch mal ohne Bodyguards bewegen wollte, sei es beim Einkaufsbummel im Rhein-Ruhr-Zentrum oder in einem der Mülheimer Biergärten. Hannelore Kraft, so schildern es Wegbegleiter, „wollte immer ihre Freiheiten haben, ist bodenständig, eine Frau der klaren Worte“.
Hannelore Kraft beim Leserbeirat 2019: „Mein Rückblick ist sehr positiv“
Eines der wenigen Gespräche, die Kraft noch zuließ, fand im Januar 2019 mit dem Leserbeirat dieser Redaktion statt. Die ehemalige Ministerpräsidentin sagte da: „Da mir immer bewusst war, dass ich dieses Amt auf Zeit ausübe, bin ich in kein Loch gefallen. Mein Rückblick ist sehr positiv, weil ich viel bewegen konnte und mich dieses Amt vor allem durch die vielen tollen Begegnungen persönlich sehr bereichert hat.“