Düsseldorf. Nach drei Jahren trat die Ex-Ministerpräsidentin erstmals wieder ans Rednerpult. Der Grund war ein Thema, das sie nicht mehr los lässt.

Als Hannelore Kraft am Donnerstagmorgen ans Rednerpult des Düsseldorfer Landtags trat, besaß dieser kurze Auftritt eine historische Dimension. Nach ihrer Abwahl als Ministerpräsidentin vor drei Jahren blieb die SPD-Politikerin zwar normale Abgeordnete für ihren Mülheimer Wahlkreis, doch nutzen ehemalige Regierungschefs gemeinhin nicht mehr ihr Rederecht bei Plenarsitzungen. Kraft, die sich sogar weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, machte eine Ausnahme von der ungeschriebenen Regel.

Es stand ein Thema auf der Tagesordnung, dem sie sich emotional verbunden fühlt wie nur wenigen anderen ihrer siebenjährigen Amtszeit: die Loveparade-Katastrophe von Duisburg. Vor bald zehn Jahren, am 24. Juli 2010, kamen bei dem Techno-Spektakel auf dem alten Güterbahnhof 21 junge Menschen ums Leben. Über 500 Besucher wurden verletzt, viele Opfer und Angehörige sind bis heute traumatisiert.

Das Landgericht fand in 184 Sitzungstagen keinen einzelnen Schuldigen

Das Landgericht Duisburg hat Anfang Mai nach 184 Sitzungstagen den Loveparade-Prozess eingestellt. Eines der aufwendigsten Strafverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik konnte nur eine Vielzahl von Umständen rekonstruieren, die damals zum tödlichen Gedränge geführt haben. Eine ausreichende individuelle Schuld war keinem Angeklagten nachzuweisen.

Der inzwischen 59-jährigen Kraft war am Donnerstag im Landtag anzumerken, wie sehr auch sie dieser unbefriedigende Ausgang der juristischen Aufarbeitung anfasst. Mit brüchiger Stimme hielt sie eine bewegende Rede und wandte sich direkt an die Hinterbliebenen der Opfer: „Wir können als gewählte Volksvertreter an Sie eine Geste richten, die von Herzen kommt: Wir bitten Sie um Vergebung.“

In einem ungewöhnlichen gemeinsamen Antrag beschlossen die Regierungsfraktionen von CDU und FDP mit der rot-grünen Opposition weitere Hilfsgelder in Höhe von fünf Millionen Euro. Außerdem soll eine Expertenkommission im Lichte der Prozess-Erkenntnisse einen neuen „Orientierungsrahmen“ für die Veranstaltungssicherheit in NRW erarbeiten. Vor zehn Jahren waren bereits Auflagen für Großevents erlassen worden, doch wirklich geordnet wurde das Zuständigkeitschaos unterschiedlichster Behörden bei der Genehmigung von großen Festen nie.

Kraft bedankte sich „persönlich“ bei ihrem Nachfolger Armin Laschet (CDU) für die Bereitstellung der Hilfsgelder. Der wiederum würdigte den jahrelangen Einsatz der SPD-Frau für die Hinterbliebenen der Loveparade-Katastrophe. Kraft habe bei der großen Trauerfeier im Sommer 2010 in der Duisburger Salvatorkirche so einfühlsame Worte gefunden, dass sie in der Stunde des multiplen Behördenversagens dem Staat „ein Stück des Respekts“ zurückgebracht habe. Dabei sei Kraft damals erst wenige Tage im Amt gewesen, lobte Laschet.

Regierungslager und Opposition applaudierten sich ausnahmsweise gegenseitig

Regierungslager und Opposition applaudierten sich immer wieder gegenseitig. Laschet hat intern schon häufiger seine Anerkennung darüber zum Ausdruck gebracht, dass Kraft abseits der Öffentlichkeit das Gedenken an die Loveparade wach halte. So wurde ein normaler Tagesordnungspunkt der letzten Plenarwoche vor der Sommerpause zur würdigen Gedenkstunde.

Kraft schlug leise Töne an, die sogar über das konkrete Ereignis hinausweisen. Sie habe in den vergangenen Jahren viel darüber nachgedacht, dass in der Politik zu oft juristische Schuld mit der Übernahme von Verantwortung gekoppelt werde. Tatsächlich scheuen sich Spitzenvertreter aller Parteien häufig, öffentlich für etwas einzustehen und moralisch haftbar gemacht zu werden, was vielleicht gar nicht in ihrem persönlichen Einflussbereich lag. Für Opfer von Katastrophen ist es gleichwohl wichtig zu sehen, dass irgendjemand für ihr Leid geradesteht.

Kraft hatte 2010 gesagt: „Wer ist schuld? Wer ist verantwortlich? Diese Fragen müssen und werden eine Antwort finden.“ Am Donnerstag räumte sie im Landtag ein: „Ich habe nicht Recht behalten.“ Es ließ sich eben nicht „der Bösewicht“ finden, wie es Richter Mario Plein beim Prozessende formuliert hatte. Umso zeitloser für die Politik erscheint eine andere Redepassage Krafts, mit der sie damals viele rührte: „Der Vater eines der Opfer hat mir eine Bitte mitgegeben, die sich an uns alle richtet: Der grausame Tod seiner Tochter könne im Nachhinein einen Sinn bekommen, wenn dieser Tod uns alle mahnt, unser aller Wertesystem zu überdenken. Der Mensch, sein Wohlergehen und seine Sicherheit müssen wieder wichtigste Leitlinien unseres Handelns sein.“