Düsseldorf. Hannelore Kraft muss eine schwere Niederlage hinnehmen. Die SPD steht an einem historischen Tiefpunkt: Nie schnitt sie in NRW schlechter ab.

Trauer, Fassungslosigkeit, Entsetzen. Nach den ersten Hochrechnungen herrscht im Henkel Saal in der Düsseldorfer Altstadt, wo sich die SPD-Anhänger zur „Wahlparty“ versammelt haben, betretenes Schweigen. Die Sozialdemokraten in NRW erleben einen beispiellosen Absturz, Hannelore Kraft muss eine schwere Niederlage hinnehmen. Die Partei steht an einem historischen Tiefpunkt: Nie schnitt sie seit Bestehen des Bundeslandes schlechter ab. Die SPD liegt am Boden.

Wahlkampf ganz auf die SPD-Chefin ausgerichtet

Schon um 18.20 Uhr tritt Hannelore Kraft ans Mikrofon und zieht die Konsequenzen aus dem Wahlergebnis: „Ich übernehme dafür die persönliche Verantwortung. Deshalb werde ich mit sofortiger Wirkung von meinem Amt als Landesvorsitzende der SPD und als stellvertretende Bundesvorsitzende zurücktreten.“ Zuvor hatte sie die Niederlage eingeräumt: „Wir haben das Vertrauen der Wähler nicht mehr gewinnen können“, sagt sie mit bebender Stimme und gratuliert Wahlsieger Armin Laschet.

Hinter ihr lagen harte Wahlkampf-Wochen. Die SPD-Kampagne war ganz auf die Ministerpräsidentin ausgerichtet. Die Person als Programm. Schöne Bilder sollten den garstigen Schlusslicht-Bilanzen der Opposition entgegengesetzt werden. „Am Ende wählen die Menschen eine Persönlichkeit, der sie vertrauen“, gaben sich die SPD-Strategen sicher.

Mit großem Vorsprung gestartet

Kraft ging mit großem Vorsprung in den Wahlkampf. Vor Ostern sah es nach einem lockeren Sieg aus. Der „Schulz-Effekt“ hatte vor allem in den SPD-Hochburgen des Ruhrgebiets seit Januar die Genossen euphorisiert. Die Begeisterung über den neuen Parteichef ließ das mühevolle Regieren in den vergangenen Jahren zwischenzeitlich vergessen. Der Ärger um Turbo-Abitur und Inklusion, das Verkehrschaos, die mäßige Wirtschaftsentwicklung, die fast unheimliche Pannenserie im Verantwortungsbereich von Innenminister Ralf Jäger (SPD) – alles schien wie weggeblasen.

Zumal Kraft kaum wiederzuerkennen war, als sie von Ende März an mit ihrem Wahlkampf-Bus durchs Land tourte. Gereiztheit gegenüber Kritikern und Journalisten? Abtauchen im Kleinklein der Landespolitik? Das persönliche Horrorjahr 2016, als ihre Mutter starb und eine Lungenentzündung sie länger außer Gefecht setzte? Beim Bürgerkontakt war der Menschenfischerin Kraft nichts von alledem anzumerken. Sie blühte regelrecht auf bei ihren Besuchen von Werkshallen, Wochenmärkten und Kindergärten. Wie zu besten Zeiten, als sie 2010 mit Ruhrpott-Charme und dem Pragmatismus einer politischen Quereinsteigerin die Herzen der Genossen eroberte und bald für höchste Ämter gehandelt wurde.

Dennoch bröckelten nach den Osterferien die Umfragewerte. Anders als 2010 und 2012 konnte die SPD diesmal nicht auf äußere Einflüsse als Wahlkampfhelfer zählen. Vor sieben Jahren hatten der Frust über Schwarz-Gelb im Bund, CDU-interne Intrigen gegen den damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers und der Zickzack-Kurs um die Griechenland-Hilfen kräftig Rückenwind verschafft. Vor fünf Jahren nahm sich Krafts CDU-Herausforderer Norbert Röttgen mit einer katastrophalen Kampagne praktisch selbst aus dem Spiel. Diesmal aber ging es allein um landespolitische Themen. Und der „Schulz-Effekt“ war spätestens nach den SPD-Pleiten im Saarland und in Schleswig-Holstein verpufft.

Der Innenminister als Wahlkampfhelfer der Opposition

Allein auf Kraft kam es an. Sie musste aber seit Wochen aus der Defensive heraus argumentieren. Warum sah bloß keiner, wie viel Geld Rot-Grün seit 2010 in Kinder und Kommunen investiert hatte? Die zumeist hinteren Ranglisten-Plätze des bevölkerungsreichsten Bundeslandes hatten die Satiriker vielmehr zum Spott über „Nordrhein-Katastrophalen“ verdichtet. Die Zeitungen schrieben vom „deutschen Griechenland“. Die Opposition befeuerte diese Lesart des Landes nicht ungeschickt und hatte dabei einen bundesweit bekannten Wahlhelfer: Innenminister Jäger.

Kraft hatte versäumt, ihren Vertrauten aus Duisburg spätestens nach den massenhaften Übergriffen der Kölner Silvesternacht 2015 zu entlassen. Sie argumentierte, Jäger habe persönlich keine Fehler gemacht, weshalb sie ihn „nicht nach Hause schicken“ werde. Ihr Loyalitätsverständnis gewichtete sie höher als die gängige Verantwortungskultur in der Politik, derzufolge der Chef irgendwann für massive Fehler im Apparat einzustehen hat. Jäger wurde so zum „Sicherheitsrisiko“ gestempelt, wie es CDU-Herausforderer Armin Laschet im TV-Duell vor Hunderttausenden Zuschauern formulierte.

Im Schlussspurt ruhten alle Hoffnungen auf Kraft, die im Februar mit grandiosen 100 Prozent vom Düsseldorfer Landesparteitag zur Spitzenkandidatin gekürt worden war. „NRWir mit Hannelore Kraft“, lautete der Slogan der letzten Offensive. Die Bilanz von sieben Regierungsjahren schrumpfte am Sonntagabend auf rund 30 Prozent.