Mülheim. Ein lückenloses Radwegenetzes soll unsichere Radler zum Umstieg bewegen. Politik und Verwaltung müssen es jedoch umsetzen. Wo Knackpunkte liegen.

Vielleicht hat der 2. November 2021 tatsächlich so etwas wie eine Zeitenwende für den Mülheimer Verkehr markiert. Damals nämlich trafen sich rund 50 Mülheimer Bürgerinnen und Bürger, um einen zusammenhängenden Radverkehr auf die Beine zu stellen. Jetzt hat der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) diesen „Mapathon“ der Ideen zu einem stimmigen Netz geknüpft und der Stadt mit einer Forderung übergeben: Baldigst umsetzen. Was daraus wird?

Die Stadt hatte sich bei der Übergabe vorsichtig gezeigt: Man wolle dies „mit der aktuellen städtischen Radverkehrsnetzplanung abgleichen“, heißt es. „Ich bin gespannt, wo es Übereinstimmung und Abweichung geben wird“, äußerte sich der scheidende Verkehrsdezernent Peter Vermeulen. Denn bei einer genauen Umsetzung der Bürgerideen würde die autoaffine Stadt wohl manche dicke Kröte schlucken müssen.

Rote Linien: So soll sich Mülheim mit den Nachbarstädten verbinden

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Systematisch angelegt haben ADFC und Bürger drei große Radwege-Netze. Ein interkommunales Netz (rote Linien) verbindet auf Ost-West- sowie Nord-Süd-Achsen die vier unmittelbaren Nachbarstädte Duisburg, Oberhausen, Essen, Ratingen. Einbezogen ist darin der Radschnellweg RS1, ebenso wichtig aber die Verbindung zu den eben nicht abgedeckten Städten ober- und unterhalb Mülheims.

Dass dabei auch ideale und teils noch in der Machbarkeitsprüfung befindliche Routen etwa über den alten Hibernia-(Bahn-)Damm nach Oberhausen eine Rolle spielen, ist nur logisch: Denn es geht ja um die zukünftige Entwicklung „einer sicheren und einladenden Infrastruktur“, wie der ADFC betont.

Über drei hierarchisch gegliederte Wegsysteme – rot, blau, grün – sollen Radler sicher zwischen Orten in der Stadt und außerhalb kommen. Um das zu erreichen, müsste manche Veränderung zu Lasten des Autoverkehrs in Mülheim vorgenommen werden.
Über drei hierarchisch gegliederte Wegsysteme – rot, blau, grün – sollen Radler sicher zwischen Orten in der Stadt und außerhalb kommen. Um das zu erreichen, müsste manche Veränderung zu Lasten des Autoverkehrs in Mülheim vorgenommen werden. © Funkegrafik NRW | Pascal Behning

Nach Süden hingegen soll das interkommunale Netz ebenfalls über den Fossilienweg führen und danach augenscheinlich über eine ehemalige Bahntrasse parallel zur Alten Straße sowie auf den Saarner Damm. Auch hier ist die Planung längst nicht so weit, dass zum einen die Verbindung zwischen Trasse und Fossilienweg oder zum anderen gar über die Düsseldorfer Straße zum Saarner Damm geklärt wären. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst hatte diesen jedoch 2020 – damals Verkehrsminister – als Teil eines „grünen Fahrradrings“ in Aussicht gestellt.

Blaue Linien: Schnell von einem Mülheimer Stadtteil zum anderen

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Ein innerstädtisches „Prioritätsnetz“ (blaue Linien) soll das interkommunale andienen, und Stadtteile untereinander und mit dem Stadtkern verbinden. Zum Beispiel sollen Holthausen und Raadt mit der City über die Zeppelin- und Kaiserstraße verknüpft werden. Oder eben – mit einem weiten Bogen über den Norden – der Raffelberg mit Styrum, Dümpten und Heißen-Kirche. Im Süden führen die Wege sogar bis nach Kettwig und Werden.

Normgerechte Radwege allein erfüllen den Zweck allerdings nicht: Der ADFC stellt weitere Kriterien für das Prioritätennetz auf, die den Fahrradverkehr sicher und schnell machen sollen. Dazu zählen „durchgeteerte erhöhte Radwege“ und eine Autolänge Abstand zur Fahrbahn an Einfahrten; Fahrräder sollen zudem durch eine vorgezogene Ampelschaltung schnell vorankommen.

Reichlich eng für Auto, Radfahrer und Fußgänger: Damit der Mülheimer Kassenberg als Teil eines „Prioritätsradwegs“ funktionieren kann, müsste mehr Platz her. Und womöglich Parkplätze verlegt werden.
Reichlich eng für Auto, Radfahrer und Fußgänger: Damit der Mülheimer Kassenberg als Teil eines „Prioritätsradwegs“ funktionieren kann, müsste mehr Platz her. Und womöglich Parkplätze verlegt werden. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Über „grüne Linien“ sollen sich Mülheimerinnen und Mülheimer ebenfalls in und zwischen den Stadtteilen bewegen, jedoch gelten hier nicht die hohen Anforderungen an ein Prioritätsnetz. Gute Beschilderungen sollen auf Knotenpunkte und Entfernungen hinweisen. Nicht ausgearbeitet sind bislang mögliche Nebenrouten des Netzes.

Entsprechend zeigt das Bürger-Radwegenetz derzeit noch Lücken. Man habe sich auf die wichtigen Strukturen konzentriert, erläuterte Volker Isbruch-Sufryd vom ADFC zur Vorstellung im Mobilitätsausschuss am Donnerstagabend.

Knackpunkte: Wo das Auto in Mülheim eingeschränkt werden müsste

Auch drückt der Entwurf auf altbekannte, aber eben noch zu lösende Knackpunkte: Der Weg nach Saarn über den Kassenberg zum Beispiel ist abschnittweise viel zu eng. Erst kürzlich bezeichnete der ADFC diesen deshalb sogar als „gefährlich“. Ohne dass hier Platz geschaffen wird, sind die Anforderungen von „Prioritätsradwegen“ kaum umsetzbar. Doch dafür müsste man schon Parkplätze am Straßenrand verlegen. Und selbst dann: Durchgängig wird die Stadt auch durch Umbau die gewünschten Wegestandards wohl nicht erreichen können, deutete der Fahrradbeauftragte Helmut Voß bereits an.

Kritik an den zu engen „Schutzstreifen“ für das Fahrrad auf dem Mülheimer Dickswall äußerten ADFC und Politik. Eine mögliche Lösung: Verzicht auf eine Autospur.
Kritik an den zu engen „Schutzstreifen“ für das Fahrrad auf dem Mülheimer Dickswall äußerten ADFC und Politik. Eine mögliche Lösung: Verzicht auf eine Autospur. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Andere Prioritäts-Strecken lassen sich hingegen gut mit bestehenden Plänen verbinden, so etwa wird das sichere Radeln nach Raadt und zum Flughafen dank Bürgerradweg derzeit schon umgesetzt – selbst wenn der damit bedingte Wegfall der Schiene umstritten ist. An der Dohne hat die Stadt den Schritt zur Fahrradstraße schon unternommen. Auch am Dickswall hat das künftige Streichen einer Autospur zugunsten des Fahrrads bereits politisch viel Zustimmung erfahren. Eine Umsetzung gilt als wahrscheinlich.

ADFC will die 60 Prozent an „unsicheren Fahrradfahrern“ in Mülheim zum Umstieg bewegen

Die Findung der Streckenverläufe war ein kreativer, aber kein einfacher Prozess: Denn der Ausbau der Radwege hat sich bislang daran gemessen, ob und wann eine Auto-Straße ausgebaut wurde. Eine davon unabhängige Planung mit eigenem Budget gab es kaum. So existiert eben kein zusammenhängendes Radwegenetz, sondern ein Flickenteppich aus qualitativ sehr unterschiedlich komfortablen Abschnitten. Je nachdem, in welchem Jahrzehnt diese errichtet wurden.

Zudem „wurde schnell klar, dass Fahrradstrecken nicht - wie in weiten Teilen das ÖPNV-Netz - immer über das Stadtzentrum laufen, sondern Verbindungen zwischen allen Stadtteilen wichtig sind“, sagt der Fahrradclub. Priorität hatten deshalb die Strecken zu den Bahnhöfen, zu Einkaufsmöglichkeiten und Schulen.

60 Prozent der Menschen in der Stadt gehörten zwar nicht zu den furchtlosen und begeisterten Radlern, sagte ADFC-Sprecher Isbruch-Sufryd. Sie würden aber dann Radfahren, wenn die Wege alltagstauglich und sicher seien. „Genau diese Gruppe wollen wir erreichen.“

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Der Ball liegt im Feld von Politik und Verwaltung

Alles hängt also an der Umsetzung: Der ADFC forderte im Mobilitätsausschuss eine konkrete Roadmap mit Zeitplan. Und drängte auf baldige „sichtbare Veränderungen“ im Radwegenetz. Gleichzeitig weist der ADFC „ausdrücklich darauf hin, dass das Netz, wie wir es vorschlagen, nicht eine Detaillösung beinhaltet, sondern ein Zielnetz, das letztendlich von Profis im Detail umzusetzen ist“. Der Ball liegt nun im Feld von Politik und Verwaltung.

Im Blick hat der Mülheimer Bürger-Entwurf die Alltagstauglichkeit von Strecken. Das Einkaufen etwa mit dem Lastenrad erfordert mehr Platz im Straßenverkehr. WAZ-Redakteur Dennis Vollmer hat es ausprobiert.
Im Blick hat der Mülheimer Bürger-Entwurf die Alltagstauglichkeit von Strecken. Das Einkaufen etwa mit dem Lastenrad erfordert mehr Platz im Straßenverkehr. WAZ-Redakteur Dennis Vollmer hat es ausprobiert. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Und die zeigte erste Reaktionen im Mobilitätsausschuss. Fahrradbeauftragter Helmut Voß begrüßte „den Prozess“ und sah bereits eine 90-prozentige Übereinstimmung der Routen mit einem Radwegezielplan, den die Stadt wohl vor rund 25 Jahren auf die Beine stellte. Die abweichenden zehn Prozent seien aber „gewinnbringend“.

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Viel Lob, aber auch manche kritischen Punkte

Allerdings gibt es auch deutliche Unterschiede in der Bewertung der vorgeschlagenen Haupt- und Nebenrouten – und damit in der Frage des künftigen Ausbaus von Straßen. Rund 20 solcher Unterschiede zwischen Mapathon- und städtischem Entwurf hat Voß ausgemacht. So schlägt der ADFC etwa den Ausbau der Mühlenstraße nach Dümpten vor, die Stadt hat hier auf einen schönen wie autofreien Pfad durchs Horbachtal gesetzt.

Schnell über die Mühlenstraße oder schön durch das Horbachtal? ADFC und Stadt haben auch unterschiedliche Lösungen für das Radeln im Sinn.
Schnell über die Mühlenstraße oder schön durch das Horbachtal? ADFC und Stadt haben auch unterschiedliche Lösungen für das Radeln im Sinn. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Den jedoch müssten sich Radler mit Fußgängern teilen. Die Grünen im Ausschuss fanden die städtische Planung nicht nur hier „schwierig, weil sie viele Freizeitrouten beinhaltet“, urteilte Carsten Voß. Doch auch im „konsequent alltagstauglichen“ Bürger-Entwurf gebe es Lücken und manche Probleme, etwa für die Route über den Damm von Saarn nach Mintard.

Der Grüne sieht Konflikte mit dem Naturschutz. „Wir betrachten dies aber als Auftakt eines Prozesses“, so Voß. Der neu gegründete Arbeitskreis Fahrrad soll sich mit einer Prüfung der Umsetzung beschäftigen.