Mülheim. Unzählige Interviews hat Mülheims Nobelpreisträger List seit Oktober gegeben. Selten wurde er dabei so privat, wie beim Hundespaziergang im Wald.

Doras Herrchen erhält den Nobelpreis für Chemie! Die frohe Botschaft machte Anfang Oktober auch im Wald am Kahlenberg rasch die Runde. Prof. Dr. Benjamin List ist dort nicht in erster Linie Chemiker von Weltrang und Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Kohlenforschung. Man kennt ihn als freundlichen Nachbarn mit Husky-Mix an der Leine – und als wagemutigen Schwimmer in der eisigen Ruhr.

Egal, was das Thermometer anzeigt: Im Winter stürzt List sich gern in die Fluten. Sein jüngerer Sohn Theo hatte einst die Idee für das Abhärte-Ritual. Der Niederländer Wim Hof, der Eistauchen und spezielle Atemübungen als Fitnessprogramm propagiert, habe ihn inspiriert, erzählt List. Badehose, Handtuch, Turnschuhe – mehr haben Vater und Sohn nicht dabei, wenn sie vom Kahlenberg zur Ruhr runterjoggen. „Am besten bei Schnee und Eis.“ Ein Freund von Theo hat sich irgendwann hinzugesellt, „seither nennen wir uns ,Die Bewegung’“, sagt List und grinst. Zwei-, dreimal die Woche geht’s ins Wasser, auch wenn das gerade sechs Grad kalt ist. „In der Mitte des Flusses, wo nichts und niemand ist, da ist unser Ort.“

„Das ist schöner hier als in Heidelberg“, sagt der Mülheimer beim Blick in die Weite

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Der Waldweg oberhalb der früheren Jugendherberge samt Aussichtsplattform ist ein weiterer Lieblingsort des Mülheimer Nobelpreisträgers. „Das ist schöner hier als in Heidelberg“, sagt er beim Blick in die Weite und weiß, dass er die Lokaljournalistin damit erfreut. Überhaupt, die Natur: „Mit dem Hund an der frischen Luft, ohne Handy – da kriege ich den Kopf frei für gute Ideen.“ Dass es eine Auseinandersetzung um die halbrunde Kanzel oberhalb der Ruhr gibt, dass über ein Stahlnetz diskutiert wird, hat er nicht mitbekommen. „Ich habe eigentlich keine Ahnung, was lokal passiert.“ Eine Meinung aber hat er: „Was Schöneres als diesen Blick gibt’s nicht. Das sollte so bleiben.“

Dora schnüffelt derweil im Unterholz. Ein Hund nähert sich. Es ist keiner der üblichen Verdächtigen, die die zehnjährige Hündin kennt und mag. Es ist unklar, wie die Sache sich entwickelt. List setzt auf Nummer sicher. Ein kurzer Befehl, „Dora, bleib“, und sie weicht ihm nicht mehr von der Seite. Für den Fall der Fälle trägt sie dennoch einen roten Anhänger am Halsband: einen Airtag, mit dem sie sich notfalls orten ließe.

Der Terminkalender ist proppevoll, seit diesem ganz besonderen Anruf am 6. Oktober

Der Kahlenberg ist ein Mini-Berg. List und Dora mögen auch deutlich höhere Exemplare, in Graubünden in der Schweiz zum Beispiel. „Im Herbst da oben spazieren zu gehen, ist echtes Glück.“ Auf Endorphine dieser Art muss der Chemiker aktuell verzichten. Der Terminkalender ist proppevoll, seit diesem ganz besonderen Anruf am 6. Oktober.

Die Story wurde oft erzählt: Ben List und seine Frau Sabine saßen in Amsterdam beim Frühstück, als das Komitee aus Stockholm anrief und ihn wegen seiner Entdeckungen im Bereich der asymmetrischen Organokatalyse zum Nobelpreisträger ernannte. Kurz darauf wussten auch in Mülheim alle Bescheid: Via Livestream hatten sie im MPI die Verkündung verfolgt und aus dem schwedischen Kauderwelsch den alles entscheidenden Namen deutlich herausgehört. Die Freude war unbändig!

Hündin und Herrchen im Spiel: Dora hört gut auf ihren Chef. Für den Fall der Fälle trägt sie dennoch einen roten Anhänger am Halsband: einen Airtag, mit dem sie sich notfalls orten ließe.
Hündin und Herrchen im Spiel: Dora hört gut auf ihren Chef. Für den Fall der Fälle trägt sie dennoch einen roten Anhänger am Halsband: einen Airtag, mit dem sie sich notfalls orten ließe. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Wanderurlaub ist also gerade nicht drin. Auch das Arbeiten kommt im Terminrausch zu kurz, „das geht nur zwischen Tür und Angel“, so List. Selbst wenn der Grund dafür nicht der schlechteste ist, tut dem MPI-Direktor die Abwesenheit aus Institut und Labor durchaus leid: „Wir hatten gerade die beste Zeit jemals, haben tolle Katalysatoren entwickelt.“ In gewisser Weise freue er sich deshalb schon auf den Oktober 2022. Wenn Schweden den nächsten Chemiker zum Superstar ausruft, kann er sich wieder mit ganzer Kraft der Forschung widmen, so die Hoffnung.

Der Mülheimer will die große Bühne nutzen, um eine wichtige Botschaft zu vermitteln

Bis dahin will der Mülheimer die große Bühne nutzen. „Die Katalyse muss mehr Beachtung finden und mehr Wertschätzung.“ Sie sei eine Schlüsseltechnologie für die Menschheit und trage zu einem Drittel des Weltbruttosozialproduktes bei.

Leider sei es nach wie vor schwierig, die breite Masse davon zu überzeugen, dass in chemischen Laboren viel Gutes entsteht: „Es gibt ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Wahrnehmung unseres Fachs und der Bedeutung für unser Leben.“ Die Katalyse helfe in vielen Bereichen, etwa bei der Herstellung von Arzneimitteln, und sie könne selbst beim Mammutthema Klimawandel eine elementare Rolle spielen.

Es gab Zeiten, da war das Drama Erderwärmung noch unvorstellbar. In Lists Familie wurde schon damals eifrig geforscht, erzählt er, während Dora am Wegesrand weiter interessiert nach Spuren ihrer Artgenossen sucht. Jacob Volhard, ein Ururgroßvater, der von 1834 bis 1910 lebte, war Chemiker und Schüler des legendären Justus von Liebig. Franz Volhard, ein Urgroßvater (1872 bis 1950), war Nephrologe; nach ihm ist ein Wissenschaftspreis benannt. Und natürlich Christiane Nüsslein-Volhard: Die Schwester seiner Mutter wurde 1995 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet – dass eine Tante und ihr Neffe derart geehrt werden, sei in der Nobel-Geschichte einmalig, erzählt ein fröhlicher Ben List. Er habe sie zur Verleihung nach Stockholm begleitet, doch, wenn man ehrlich sei: „Als Kinder hatten wir kaum etwas mit ihr zu tun.“

„In meiner Familie haben alle einen großen Sinn für Ästethik“

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List wuchs in Frankfurt auf, die Mutter ist Architektin, der Vater Kunsthändler, ein Bruder ist Maler, der andere Produktdesigner. „In meiner Familie haben alle einen großen Sinn für Ästhetik.“ Die Mutter habe „eine tolle Handschrift“, der künstlerische Bruder sei „wirklich talentiert“, fast schon ein Wunderkind. „Ich habe sie dafür bewundert. Ich hatte so etwas nicht.“

Heute aber finde er Ästhetik auch in seiner Arbeit. List schwärmt von „Schönheit in chemischen Reaktionen und Katalysezyklen“. Ein Verfahren, das ohne unerwünschte Nebenprodukte bleibt, lobten Fachleute untereinander auch gern als „elegante Synthese“.

Was fehlt dem Ästheten in Mülheim? „Restaurants, in denen man supergut essen kann.“ Vegetarier List steht auf Sterneküche. „Und Third-Wave-Cafés.“ Sprich Cafés, in denen Kaffeekultur auf höchstem Niveau gepflegt wird, „wo’s fanatisch guten Kaffee gibt“. Bei seinen Reisen um die Welt suche er via Internet nach entsprechenden Locations; vor Ort werde er leider nicht fündig. Auch exzellenter Wein hat es ihm angetan.

Genussvolles Leben schließt für Ben List eine Portion Askese nicht aus

Genussvolles Leben schließt eine Portion Askese nicht aus: „Jeder Tag beginnt mit zwei Stunden Yoga, mit Körperübungen, Atemtechniken und Meditation. Und jeder Tag endet mit einer weiteren Stunde Yoga“, erzählt List. Keine Frage, sein Leben und seine Familiengeschichte sind außergewöhnlich. Er hofft trotzdem, dass seine Söhne Paul und Theo keinen Erfolgsdruck spüren, ihren Weg unbeschwert gehen können. „Ich habe ihnen immer geraten, das zu tun, was sie wirklich wollen, was sie begeistert.“ Der Ältere studiert nun Gartenbau, der Jüngere macht eine Ausbildung zum Marketing Manager. „Sie sind glücklich“, so der Vater.

Zum Spaziergang im Wald brachte Ben List den Nobelpreis mit. Auf den letzten Metern zog er das Kästchen mit der Medaille aus seiner Manteltasche, so, als wolle er mal eben Kaugummis rausholen oder ein Taschentuch.
Zum Spaziergang im Wald brachte Ben List den Nobelpreis mit. Auf den letzten Metern zog er das Kästchen mit der Medaille aus seiner Manteltasche, so, als wolle er mal eben Kaugummis rausholen oder ein Taschentuch. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

List hält sich übrigens für „wenig professoral“. Übertrieben würdevolles Auftreten ist nicht seins – das zeigt sich auch gegen Ende des kurzweiligen Hundespaziergangs. Auf den letzten Metern des Waldweges greift List in seine Manteltasche, so, als wolle er mal eben Kaugummis rausholen oder ein Taschentuch. Er zieht ein Kästchen aus Leder hervor, klappt es auf: darin sein Namenszug und eine Goldmedaille. „Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht noch“, sagt Doras Herrchen. „Alle reden über den Nobelpreis – das ist er. . .“