Mülheim. Benjamin List, Nobelpreisträger aus Mülheim, erklärt im Interview, wem seine Entdeckung nützt und warum er gern in der Ruhr baden geht.

Schon als Kind war Benjamin List von der Chemie begeistert. Sie schien die Lösungen für alle Rätsel der Welt bereit zu halten. Für seine bahnbrechenden Entdeckungen in der Katalyse erhält der Direktor des Mülheimer Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung im Dezember den Chemie-Nobelpreis. Michael Kohlstadt und Christopher Onkelbach sprachen mit dem 53-jährigen darüber, wie der Preis sein Leben verändert hat, welche Bedeutung seine Entdeckung hat und was er jungen Menschen rät.

Was hat Ihre Begeisterung für Chemie geweckt?

Benjamin List: Ich war schon ein Chemie-Fan, bevor ich das Fach in der Schule hatte. Ich hatte den Eindruck, dass Chemiker allwissend sind und alles verstehen. Denn alles, Menschen und Pflanzen, besteht aus Atomen und Molekülen. Wenn man weiß, wie sie funktionieren und interagieren, dann weiß man alles über die Welt. Das war meine kindliche Idee. Bei einem Freund haben wir dann ein Labor im Keller aufgebaut und vor allem Schwarzpulver hergestellt. Da war ich angefixt von Chemie.

Sie wollten verstehen, was die Welt zusammenhält?

Als Schüler bewegten mich die großen Fragen: Was ist Zeit, woraus besteht die Welt, wie groß ist das Universum? Irgendwann habe ich gemerkt, dass die Chemie darauf keine Antworten liefert. Aber über Fragen wie: Was ist die Natur der Realität, was ist Bewusstsein, kann ich auch heute noch lange nachdenken. Aber Chemie und Physik verstehen nicht wirklich, woraus die Welt besteht. Am Ende bleiben immer große Fragezeichen.

Wie kamen Sie auf die nobelpreiswürdige Idee?

Es war eines der wenigen komplett durchdachten und funktionierenden Experimente, die ich durchgeführt habe. Bis dahin ging die Chemie davon aus, dass bestimmte chemische Reaktionen nur mithilfe von Metallverbindungen funktionierten. Dabei handelte es sich oft um giftige oder teure Schwermetalle oder auch seltene Edelmetalle. Ich habe entdeckt, dass das auch mit organischen Molekülen klappt. Es war ein einfaches Experiment und klang verrückt. Aber ich habe es versucht und es hat geklappt. Ich habe dann schon gemerkt, dass das etwas Besonderes sein könnte. Heute arbeiten weltweit viele Forschergruppen in Wissenschaft und Wirtschaft mit dieser neuen Art der Katalyse.

Wie funktioniert die Katalyse?

Katalysatoren bewirken, dass chemische Reaktionen überhaupt stattfinden und beschleunigt werden. Ich beschreibe es gerne so: Katalyse ist genau ein Molekül entfernt von Magie. Magie wäre: Ich nehme einen Zauberstab und verwandele das Wasser in diesem Glas in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff. Mit einem Katalysatormolekül erreiche ich dasselbe. Ich brauche aber nur dieses eine Molekül, das Trilliarden von Wassermolekülen spaltet. Das Tolle ist: Es funktioniert wie ein Werkzeug, das man ja auch immer wieder verwenden kann. Und es werden keine Nebenprodukte erzeugt, deshalb ist es auch eine im Kern grüne Technologie.

Welche Rolle spielt Ihre Entdeckung für den Alltag?

Den wenigsten ist bewusst, wie wichtig die Katalyse für die Menschheit ist. Man schätzt, dass etwa ein Drittel des globalen Bruttosozialprodukts auf Katalyse basiert. Es betrifft so viele Bereiche: Kunststoffe, Farben, Benzin, Arzneimittel, Energie – all das profitiert von der Katalyse. Sie ist vermutlich die wichtigste Technologie, die es überhaupt gibt und wird auch große Bedeutung beim Kampf gegen den Klimawandel haben.

Sie haben viele Jahre am renommierten Scripps-Institut im kalifornischen San Diego gearbeitet. Wie schwer fiel Ihnen der Wechsel vom Pazifik an die Ruhr?

In San Diego hatte ich ein Büro mit Ozeanblick und konnte im Februar in der Ferne Wale vorbeiziehen sehen, ich habe am Strand gejoggt und gesurft. Jetzt blicke ich von meinem Büro aus in Richtung Oberhausen. Wir haben hier in Mülheim vielleicht nicht den Pazifischen Ozean, aber ich kann zur wunderschönen Ruhr laufen und dort im Winter schwimmen gehen, was herrlich ist. Und die Wahrheit ist auch: Hier in Mülheim arbeite ich an einem Weltklasseinstitut. Überhaupt ist die ganze Max-Planck-Gesellschaft einzigartig in der Welt.

Warum?

Die Idee der Max-Planck-Gesellschaft ist, die besten Köpfe aus aller Welt zu holen und um sie herum ein Team und ein Labor nach Ihren Wünschen aufzubauen. Das ist ein Traum für jeden Wissenschaftler. Zudem sind wir mit den Universitäten in der Region gut vernetzt. Viele unserer Forscher promovieren an einer Uni in NRW. Die Ruhr-Uni Bochum ist zum Beispiel auch sehr stark im Bereich Chemie.

Nun sind Sie mit dem Nobelpreis in den Olymp der Wissenschaft aufgestiegen. Haben Sie noch Forschungsziele?

Ich werde jetzt nicht aufhören zu forschen und nur noch philosophische Vorträge halten. Ich bin in der Mitte meines Forscherlebens. Wir arbeiten an einer neuen Art von Katalysatoren, starken Säuren. Säuren sind nahezu universelle Katalysatoren, man kann mit winzigen Mengen davon ungeheure Mengen neuer Substanzen herstellen. Und: Wir bringen ihnen gerade bei, das auch noch selektiv zu tun, also nur ausgewählte Produkte herzustellen. Wir denken auch über neuartige katalytische Medikamente nach, die an Krebszellen binden und einen ungiftigen Wirkstoff erst direkt am Tumor in ein wirksames Medikament umwandeln.

Wird Ihnen der Rummel um Ihre Person manchmal zu viel?

Nein, ich habe eine Botschaft und auch eine Pflicht, über meine Arbeit zu reden. Ich will auch jungen Menschen sagen, dass Naturwissenschaften toll und spannend sein können, besonders Chemie und Katalyse. Mache das, wofür Du wirklich brennst, wofür Du eine Leidenschaft hast - das ist mein bester Rat an junge Menschen. Der Nobelpreis ist allerdings fast zu viel der Ehre für zwei Leute allein. Denn daran sind immer viele Menschen beteiligt, das Team, das Institut, viele Kollegen weltweit, die das Thema aufgegriffen haben.

Freuen Sie sich auf die Zeremonie in Stockholm?

Leider wird die feierliche Veranstaltung in Stockholm am 10. Dezember wegen Corona ausfallen. Wie es stattdessen abläuft, weiß ich noch nicht. Es ist natürlich ein bisschen schade, denn ich habe die feierliche Zeremonie schon einmal erlebt, als meine Tante Christiane Nüsslein-Volhard 1995 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Aber Sie können sich bestimmt vorstellen, dass ich mich in diesem Moment über gar nichts beschweren möchte!

Zur Person:

Benjamin List (53) ist seit 2005 Direktor am Mülheimer Max-Planck-Institut für Kohlenforschung. Der gebürtige Frankfurter und sein an der US-Eliteuniversität Princeton forschender Kollege David MacMillan erhalten den Chemie-Nobelpreis 2021 zu gleichen Teilen für die Entdeckung organischer Katalysatoren.

Auch die Tante hat einen Nobelpreis

List ist nicht der erste Nobelpreisträger in seiner Familie. 1995 erhielt seine Tante Christiane Nüsslein-Volhard den Medizin-Nobelpreis. Und schon sein Ururgroßvater Jacob Volhard (1834-1910) war ein bedeutender Chemiker. Nach Mülheim kamen die Lists vor 18 Jahren. Zuvor lebte die Familie im kalifornischen San Diego. Dort arbeitete List als Assistant-Professor am Scripps Research Institute in La Jolla, einem Vorort der für ihre Traumstrände bekannten Westküsten-Metropole. Studiert hat List unter anderem in Frankfurt und Berlin.

2004 überlebte Familie List den Tsunami in Thailand

Mit dem Meer verbindet sich für Benjamin List, seine Frau Sabine und die beiden Söhne Paul und Theo auch ein traumatisches Ereignis. Beim Strandurlaub in Thailand im Dezember 2004 wurde die Familie Opfer der Tsunami-Katastrophe. List wurde verletzt, wäre fast ertrunken, sein damals drei Jahre alter Sohn Theo war zunächst verschwunden. Erst Stunden später fanden die Eltern ihn zufällig in einer Klinik wieder. „Der Tsunami ist Teil meines Lebens“, sagt er heute. „Das Trauma ist weg, geblieben ist die Dankbarkeit, dass wir alle vier überlebt haben.“