Mülheim. Hat Corona die Digitalisierung der lokalen Händler befördert? Wie Marc Heistermann, Geschäftsführer des Handelsverbands Ruhr, die Lage einschätzt.
Eine gewisse Normalität hat sich eingestellt, wenn Mülheimerinnen und Mülheimer einkaufen gehen – die Maske und das Abstandhalten gehören freilich weiterhin dazu. Die Geschäfte aber sind nach dem Ende des zweiten Lockdowns seit Monaten weitestgehend wieder geöffnet, hier und da sind Öffnungszeiten noch verkürzt. Welche Auswirkungen haben die Erfahrungen aus den Lockdowns für die Einzelhändler, welche Handelsformate haben sich währenddessen etabliert, was hat bis heute Bestand und womit können die Händler in Mülheim künftig bei ihren Kunden punkten? Ein Gespräch mit Marc Heistermann, Geschäftsführer des Handelsverbandes Ruhr, über die Verzahnung von stationären Läden und Internethandel.
„Die Pandemie hat die Digitalisierung bei manchen Händlern vier, fünf Jahre nach vorne katapultiert“, sagt Marc Heistermann, Geschäftsführer des Handelsverbandes Ruhr. „Das sind alles keine neuen Entwicklungen, doch die mussten nun vollzogen werden, denn dem Kunden blieb ja nichts anderes übrig, als online zu bestellen.“ Im Umkehrschluss mussten sich auch die Händler umstellen, um am Markt zu bleiben.
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„Viele Kunden haben während der Lockdowns gesehen, wie einfach und problemlos das online geht, rund um die Uhr einzukaufen. Die Messlatte für den stationären Handel liegt hoch gegenüber dem Internet. Wir sind jetzt mit einem Kunden konfrontiert, der die Vorzüge des Internet-Einkaufes – etwa die Bequemlichkeit – zu schätzen gelernt hat“, ist der Handelsverbandschef überzeugt.
Erlebnis-Einkauf in Geschäften vor Ort – da kann der Internethandel nicht mithalten, ist der Handelsverbandschef überzeugt
Das große Pfund, mit dem der Handel vor Ort wuchern könne, ist nach Ansicht Heistermanns der Erlebnis-Einkauf. Doch der Essener schränkt ein: „Stationärer Handel ist nicht immer nur Erlebnis, manchmal geht es ja schlicht um Bedarfsdeckung.“ Aber der Kunde erwartet heute – nach seinen Online-Shopping-Erfahrungen – dass der Einzelhandel ein entsprechend großes Sortiment im Laden vorhalte.
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„Wenn ich als Händler eine Ware im Geschäft nicht habe, muss ich Möglichkeiten schaffen, wie ich es trotzdem anbieten kann. Das heißt die digitale Erweiterung des Warenangebotes – etwa wenn ich nicht alle Farben oder Größen da habe, muss ich der Kundin oder dem Kunden alles online zeigen und besorgen können und es nach Hause liefern lassen. Denn: Keiner kann im stationären Handel so ein riesiges Sortiment vorhalten wie die großen Internetplattformen. Aber Möglichkeiten aufbauen, um das Angebot zumindest vergleichbar hinzukriegen.“
„Die Verzahnung von stationärem Handel und Internet ist wichtig, aber nicht das absolute Credo für alle.“
Was den stationären Handel dem anonymen Internetangebot überlegen machen könne, seien gute Beratung und eine Kundenbindung an die Verkäuferinnen und Verkäufer im Geschäft vor der Haustür, glaubt Heistermann. „Gut informiertes Verkaufspersonal ist im Onlinebereich nicht die Regel. Der Kunde aber war noch nie so informiert wie heute. Der hat schon die Bedienungsanleitung gelesen, bevor er das Gerät gekauft hat.“ Verkaufspersonal, das sich mit den Produkten wirklich auskenne, sei daher das A und O im Einzelhandel, sagt Heistermann, der gleichzeitig einräumt, dass es für die Händler nicht einfach sei, entsprechende Mitarbeitende zu finden. „Als Händler muss ich mein Personal daher auch stetig schulen.“
Manche Einzelhändler – abseits der großen Ketten – seien in puncto Verfügbarkeit dazu übergegangen, auf ihren eigenen Websites darzustellen, was im Laden vorrätig ist. „Solch ein Service ist ein Mosaikstein, aber kein unbedingtes Muss für alle“, ordnet Heistermann ein und betont: „Der Händler kennt seine Kunden selbst am besten und weiß, was die an zusätzlichem Service brauchen.“ Unstrittig aber sei: „Hundert Prozent der Händler müssen sich mit der Digitalisierung auseinandersetzen, ignorieren ist der schlechteste Ratgeber dabei.“
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Der Geschäftsführer des Einzelhandelsverbands konkretisiert: „Wenn ich mich als Händler mit der Digitalisierung auseinander gesetzt habe, muss ich entscheiden: Ist das was für mich? Lohnt sich der Aufwand? Die Verzahnung von stationärem Laden und Internet ist enorm wichtig, wobei man nicht sagen muss, dass es für alle das absolute Credo ist.“
Wie Händler ihre Kundinnen und Kunden mit ihrem Angebot erreichen können
Nicht jeder, der einen Laden betreibt, müsse einen eigenen Onlineshop aufziehen, viele nutzten laut Heistermann auch bestehende Onlineplattformen wie Marketplace oder Ebay. „Diese Plattformen sind bereits bekannt, die muss man nicht noch im Markt implementieren. Denn die Frage, die über allem steht, ist: Wie erreiche ich den Kunden? Wie erfährt der Kunde von meinen Angeboten?“
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Wichtige Wege, um Kontakt zum Kunden zu bekommen, seien die sozialen Medien sowie Newsletter-Mailings oder Kommunikation über Whatsapp. Um Händlern Hilfestellungen beim Umgang mit der digitalen Technik und den Möglichkeiten des Internets zu geben, werden vom Handelsverband NRW sechs Digitalcoaches eingesetzt, die Beratung für die Verbandsmitglieder leisten, Förderprogramme aufzeigen und helfen, die IT aufzurüsten. Heistermann verdeutlicht: „Das ist ein Prozess, der sich fort entwickelt. Da reicht es nicht, einmal in Digitalisierung zu investieren. Ich muss als Händler den Markt beobachten, ich muss sichtbar sein und ich muss einen Mehrwert gegenüber dem Internet bieten.“ Der örtliche Buchhandel sei ein Beispiel für gelungene Verzahnung: „Dort hat man sehr schnell gelernt und ist innovativ darin, Mehrwerte zu bieten wie etwa über Youtube-Videos die Kunden anzusprechen.“
Kundenverhalten hat sich – nicht nur in Mülheim – radikal verändert
Der Handelsverband beobachte, dass sich das Kundenverhalten bereits über Jahre verändert hat. „Durch Corona hat es sich noch schneller geändert. Wer glaubt, Kundenverhalten und Handel werden nach der Pandemie dahin zurückspringen, wo sie vor Corona waren, dem sage ich: Das ist eine Rechnung, die nicht aufgehen wird“, betont Heistermann und blickt in die Zukunft: „Viele werden im Internet bleiben und beide Kanäle weiterhin nutzen.“ Auch eine Variante von Click und Collect sei dauerhaft denkbar, denn dadurch komme der Kunde zum Abholen in den Laden und lasse sich unter Umständen zu Begleitkäufen verleiten. „Auch Bringdienste sind ein Mehrwert und fördern die Kundenbindung, es ist nur die Frage, ob das kostendeckend machbar ist“, sagt der Handelsverbandschef.
Land gibt Digitalzuschuss für den Handel
Für Handelsgeschäfte in Nordrhein-Westfalen gibt es seit Anfang erneut finanzielle Unterstützung für digitale Maßnahmen. Im Förderprogramm „NRW-Digitalzuschuss Handel“ stellt das Land dafür in mehreren Runden insgesamt fünf Millionen Euro bereit.
Das Förderprogramm richtet sich an Handelsunternehmen mit bis zu 49 Mitarbeitenden. Die Händler können sich Maßnahmen zur digitalen Weiterentwicklung ihres Geschäftsmodells mit bis zu 2.000 Euro bezuschussen lassen. Förderbar sind etwa Abholstationen, Hard- und Software, die Ausstattung zur Produktfotografie, Kassen- und Warenwirtschaftssystem sowie Weiterbildungsmaßnahmen zu sozialen Medien. Weitere Infos: www.digihandel.nrw
Einen Sprint nach vorne habe der Handel durch die Auswirkungen der Pandemie auch bei Bezahlsystemen gemacht. „Obwohl der Deutsche eigentlich der Bargeld-Weltmeister ist, merkt man, dass das abgenommen hat“, registriert Marc Heistermann: „Digitale Möglichkeiten um zu bezahlen, etwa mit dem Handy oder einer entsprechenden Uhr, werden immer mehr nachgefragt. Als Händler muss ich dementsprechend ein Angebot schaffen.“
Nun steht das Weihnachtsgeschäft bevor – ungeheuer wichtig für die Händler und doch unwägbar angesichts der steigenden Corona-Zahlen. „Viele sind durch die Pandemie geschlittert und irgendwie über die Runden gekommen, aber viele Rücklagen sind nun aufgezehrt, ein großes Invest, um digitale Möglichkeiten zu schaffen, wird nicht mehr jeder anstoßen können“, fürchtet Heistermann und fordert daher von Seiten der neuen Bundesregierung Signale und Programme zur Unterstützung der Händler.
Blick in die Innenstadt: Wohlfühlambiente muss schon vor der Ladentür beginnen
Heistermann lässt keine Illusionen aufkommen, was den stationären Handel anbelangt: „Einem Großteil der Kunden geht es nicht in erster Linie darum, den stationären Händler zu unterstützen, auch wenn es dahingehend immer mal wellenartige Bestrebungen gegeben hat – das halte ich nicht für zukunftsträchtig.“ Vielmehr müsse es dem Kunden einfach gemacht werden, zu den Geschäften zu kommen und er müsse Anreize finden, um länger im Laden zu verweilen. „Das Verkaufsgespräch muss vernünftig sein, die Leute müssen sich aufgehoben fühlen, ich muss ein Wohlfühlambiente schaffen.“
Ein Wohlfühlambiente aber beginne nicht erst hinter der Ladentür, so der Verbandsgeschäftsführer: „Aufenthaltsqualität kann der Handel nicht alleine schaffen. Der Ladeninhaber hat nicht alle Einflussmöglichkeiten darauf, ob es vor seinem Geschäft sicher und sauber ist und ob es bequem erreichbar ist“, sagt Heistermann und unterstreicht: „Da muss man höllisch aufpassen bei Planungen – auch unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten – bei der Mobilität nicht an der Zielgruppe vorbei zu planen.“
Heistermann: „Die Menschen brauchen einen Grund, warum sie die Sachen nicht zu jeder Zeit von der Couch einkaufen sollen.“
Innenstädte müssen nach Ansicht Heistermanns einen Mix bieten, in dem der Einzelhandel zwar einer der wichtigsten Bestandteile sei, gute Gastronomie aber ein nicht weniger entscheidender. „Die Menschen brauchen einen Grund, warum sie die Sachen nicht zu jeder Zeit von der Couch einkaufen sollen, sondern warum sie sich bemühen sollen, zu bestimmten Standorten zu kommen“, sagt der Handelsverbandschef und verweist auf das geänderte Freizeitverhalten von Familien, für die der Besuch in der Innenstadt eine Alternative zu anderen Unternehmungen sein sollte. „Innenstädte sind nicht allein Orte, wo ich konsumiere, sondern auch Orte der Begegnung und des sozialen Miteinanders.“
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Aber auch dabei zähle der Mehrwert, der Erlebnisfaktor, die hochkarätige Veranstaltung wie etwa eine Gourmetmeile. „Wertige Veranstaltungen ziehen Publikum an, das den Standort wegen des Einzelhandels nicht aufsuchen würde – diese Besucher werden im besten Fall auf die Geschäfte neugierig. Dann muss an solchen Tagen aber auch alles sitzen – es muss sauber sein, die Leute müssen sich sicher fühlen.“
Mülheimer hat ein Pfund, mit dem es wuchern kann
Mülheim indes habe nach Ansicht Heistermanns Pfunde, mit denen es wuchern könne: „Ich wüsste keine andere Innenstadt in der Umgebung, wo ein Fluss durchfließt, wo direkt der Radschnellweg entlang geht. Die Frage ist: Wie kriege ich es hin, dass die Menschen hier verweilen und auch einkaufen. Aber man hat es hier schon sehr schwer – man muss sich fragen: Was habe ich hier an Läden in der Innenstadt zu bieten, die die Kunden veranlassen, den Standort aufzusuchen.“ Innenstädte werden weiter ihr Gesicht verändern, davon ist Heistermann überzeugt: „Handel wird immer dazu gehören, wird aber auf viel weniger Fläche stattfinden. Wie bei den Textilhändlern etwa – das waren die, die die großen Flächen bespielt haben. Aber so viel Fläche kann ich gar nicht bauen, um mein Sortiment so groß zu haben, wie es im Internet verfügbar ist.“
Heistermann warnt davor, mit Blick auf Handel und Stadtentwicklung noch viel Zeit verstreichen zu lassen: „An kleineren Standorten ist schon sichtbar, was das alles nach sich ziehen kann, wenn der Handel nicht mehr vor Ort sitzt. Die Bandenwerbung auf dem örtlichen Sportplatz etwa kommt doch zumeist vom Händler vor Ort, der auch was in die Vereinskasse tut. Ich glaube, da denken viele nicht weit genug, was das für das gesellschaftliche Miteinander bedeuten kann, wenn der örtliche Handel die Flügel streckt. Dass es Tabula rasa geben kann, ist vielen nicht bewusst.“