Mülheim. Nur jedes zweite Mülheimer Vorschulkind wird richtig untersucht. „Unglücklich“ ist man darüber im Gesundheitsamt. Aber Corona bindet die Kräfte.
Für die künftigen Erstklässler laufen die Schuleingangsuntersuchungen, doch wegen der Corona-Pandemie kann nur ein Minimalprogramm geboten werden. Nach Auskunft der Stadt Mülheim stehen etwa 1500 Kinder auf der Liste, von denen bisher rund 900 untersucht wurden.
Bei der Hälfte der Kinder, also etwa 450 Mädchen und Jungen, erfolgte dies in stark verkürzter Form: Im Gesundheitsamt wird nur ein Hör- und ein Sehtest gemacht sowie der Impfpass kontrolliert. „Vor allem wird auf die Masernimpfung geschaut“, erklärt Stadtsprecher Volker Wiebels. Denn diese ist seit März 2020 Pflicht in Kitas und Schulen.
Mülheimer Gesundheitsamt kontrolliert die Masernimpfung
Die andere Hälfte der Vorschulkinder ist genauer untersucht worden. Zur Entscheidung, für wen ein kurzer Check ausreicht, für wen nicht, erläutert Dr. Saskia Bohlen, Leiterin des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes: „Kinder, bei denen es um eine vorzeitige Einschulung oder Rückstellung geht, werden bevorzugt untersucht.“ Damit klar ist, wie viele Kitaplätze frei werden oder eben nicht. Bei einigen Kindern kämen auch Hinweise aus den Grundschulen oder Kitas, dass man genauer hinschauen sollte.
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Das Verfahren sei schon im vergangenen Jahr so durchgeführt worden, heißt es bei der Stadt. Tatsächlich hatte die Corona-Pandemie schon im Vorjahr die Schuluntersuchungen sehr erschwert. Im ersten Lockdown wurden sie zwei Monate lang komplett gestoppt. Danach ging es nur langsam voran - als Hemmnisse nannte der stellvertretende Leiter des Mülheimer Gesundheitsamtes, Thomas Hecker, die aufwändigen Hygienemaßnahmen und das Fehlen medizinischen Personals, das man für die Pandemiebekämpfung einsetzen müsse.
Die Schuluntersuchungen erstreckten sich 2020 bis weit in den August. Erst zum Schuljahresbeginn waren alle Erstklässler untersucht. Das Team im Gesundheitsamt war letztlich froh, es überhaupt geschafft zu haben. Zwei Drittel der Kinder konnten im Vorjahr komplett untersucht werden, ein Drittel im Schnelldurchlauf berichtet Dr. Saskia Bohlen. „In diesem Jahr wird das Verhältnis sicher schlechter sein.“
Ärztinnen müssen auch bei der Pandemiebekämpfung helfen
Vier Ärztinnen sind im Kinder- und Jugendärztlichen Dienst tätig, die sich knapp zweieinhalb Stellen teilen und auch noch in die Pandemiebekämpfung eingebunden sind. „Wir arbeiten mit in der Kontaktnachverfolgung“, berichtet die Leiterin, „müssen dort auch Spät- und Wochenenddienste abdecken.“ Arbeitszeit, die bei den Schuluntersuchungen fehlt.
Unterstützung kommt von vier sozialmedizinischen Angestellten, die normalerweise im Gesundheitsprojekt „Füchse“ arbeiten: einem Früherkennungsprogramm in den Kitas, das derzeit wegen der Pandemie gestoppt ist. Dieses Team springt jetzt bei den Schuluntersuchungen mit ein.
Untersuchung soll helfen, die Schulfähigkeit zu beurteilen
Normalerweise ist die ärztliche Untersuchung der Vorschulkinder, die das NRW-Schulgesetz verpflichtend vorschreibt, eine aufwändige Sache. Ihr Ergebnis bilde „einen wesentlichen Aspekt bei der Beurteilung der Schulfähigkeit“, heißt es auf der Website der Stadt Mülheim.
Der Gesundheitscheck umfasst neben Seh- und Hörtest sowie Überprüfung der Impfungen auch Tests zum allgemeinen Entwicklungsstand, zur Sprachentwicklung und eine körperliche Untersuchung im Gesundheitsamt. Die Eltern werden beraten und auf Hilfsangebote aufmerksam gemacht.
Viele Städte kürzen Untersuchungsprogramm wegen Corona
Im Zeichen der Pandemie haben aber etliche Städte bei den Schuluntersuchungen gekürzt, beispielsweise testen Duisburg oder auch Bochum in diesem Jahr nur Kinder, bei denen sich Auffälligkeiten gezeigt haben. In Essen dagegen soll bis zum Ende der Sommerferien möglichst der komplette Jahrgang untersucht werden. Hier deutet sich auch ein bedenklicher Trend an, der möglicherweise mit der Corona-Pandemie zusammenhängt: mehr Kinder mit Übergewicht oder motorischen Schwierigkeiten als im Vorjahr, schwächere Deutschkenntnisse bei Kindern mit Migrationshintergrund. Statistisch abgesichert ist dies in Essen noch nicht, zeigt aber die Bedeutung umfangreicher Schuluntersuchungen.
Zahl der Erstklässler gestiegen
Die Grundschulanmeldungen für das Schuljahr 2021/2022 wurden Anfang Oktober 2020 durchgeführt.
Angemeldet wurden 1519 Kinder, das sind 76 mehr als im Vorjahr.
Wie immer rechnet die Stadt Mülheim noch mit nachträglichen Anmeldungen.
An dieser zweifelt auch in Mülheim niemand. „Wir sind mit der Situation überhaupt nicht glücklich“, sagt Dr. Saskia Bohlen. Sie findet es immens wichtig, den ganzen Jahrgang in Augenschein zu nehmen, denn man müsse auch den Durchschnitt kennen. „Wenn wir nur noch Kinder sehen, bei denen es Schwierigkeiten gibt, verlieren wir das Gefühl dafür: Was ist normal?“
Ärztin im Gesundheitsamt: „Wir sind mit der Situation überhaupt nicht glücklich“
Inwiefern der Lockdown den Mülheimer Kindern schon zugesetzt hat, sei daher schwer zu beurteilen. Ein Defizit sehen die Ärztinnen aber ganz klar: „Es gibt deutlich mehr Kinder, die nicht schwimmen können.“ Sehr wenige hatten Gelegenheit, es zu lernen. „Generell kann man sagen: Das Vorschuljahr fehlt den Kindern“, so Dr. Saskia Bohlen. „Es ist unwiederbringlich verloren, und das ist traurig.“
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Dem Sprecher der Mülheimer Schulleitervertretung, Andreas Illigen, macht das eingedampfte Verfahren im Gesundheitsamt wenig Sorgen. „Die Grundschulen haben alle Kinder bei der Anmeldung im Oktober gesehen“, sagt der Leiter der Schildbergschule. „Da waren noch persönliche Gespräche möglich. Das lief ganz gut.“
Grundschulleiter: Alle Kinder bei der Anmeldung im Oktober gesehen
Wenn ein Kind besonderen Förderbedarf habe, werde dies durch die Eltern und Kitas gemeldet. Diese Erstklässler würden ja weiterhin vom Gesundheitsamt untersucht, sagt Illigen, der die Schuleingangsuntersuchungen grundsätzlich für sehr wichtig hält: „Sie helfen uns, ein Kind besser einschätzen zu können.“