Mülheim. Mülheims einzige Hauptschule kehrt zurück zum Vollbetrieb. Voller Freude. Dort, wo Schule am schwierigsten ist, wurde sie schmerzhaft vermisst.

Montagmorgen, 8 Uhr, es ist soweit: Die Klasse 5b der Schule am Hexbachtal sitzt wieder vollständig versammelt und maskiert an ihren Zweiertischen - fast vollständig. Ein einziges von 21 Kindern fehlt. Ein frisches Frühlingslüftchen weht durch die gekippten Fenster, Lehrer Matthias Hallmann startet mit der ersten Unterrichtsstunde in voller Besetzung. Zuletzt war so etwas im Dezember möglich.

Mülheimer Hauptschule startet wieder mit voller Besetzung

Es geht los mit praktischer Philosophie, mit dem Thema: Vermissen. Was man so alles vermissen könne, fragt der junge Lehrer die Kinder, die sich rege zu Wort melden. „Familie.“ „Haustier.“ „Handy.“ „Heimat.“ „Normale Schule“. Herr Hallmann nickt und schreibt es mit Kreide an die Tafel: „Schule ohne Covid“. Wer freut sich, dass die Klasse wieder zusammenkommt? Fast alle Hände gehen hoch. Wer fühlt sich unwohl, weil man so eng beisammen sitzt? Niemand?

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Bedenken hätten die Schüler schon gehabt, berichtet der Lehrer, vergangene Woche im Wechselunterricht hätten einige nachgefragt: „Müssen wir jetzt wieder nebeneinandersitzen?“ Die Antwort lautet: Ja. Und das ist jetzt augenscheinlich für alle in Ordnung. „Unsere Schüler haben keine besonderen Ängste“, meint Schulleiterin Barbara Kromer. „Sehr viele leben in großen Familien.“ Auch bei den Eltern hätten sich nur ganz wenige Stimmen gegen den Präsenzunterricht erhoben. „Nur zwei, drei, die sich immer über alles beschweren.“

Schulleiterin verspürt Angst im Kollegium - „aber im Unterricht leben alle auf“

Im Kollegium dagegen hat die Schulleiterin „relativ viel Angst“ verspürt vor der Rückkehr in den Regelbetrieb. Der Altersschnitt sei sehr hoch. Die wenigsten seien schon immunisiert. „Aber wenn sie dann wieder im Unterricht sind, leben alle auf“, sagt Barbara Kromer und spricht explizit auch für sich selber, Altersgruppe 60plus. „Da arbeite ich lieber mit FFP2-Maske. Die Schüler zu sehen, ist viel, viel schöner. Im Prinzip sind alle Lehrer froh, dass es wieder losgeht. Dafür machen wir das ja.“

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Rund 380 Kinder und Jugendliche besuchen Mülheims einzige Hauptschule. Die Klassen fünf bis sieben werden in der Dependance an der Gathestraße unterrichtet, das alte Backsteinhaus beherbergte früher eine Grundschule. Die kleine Turnhalle wurde umfunktioniert zum schuleigenen Corona-Testzentrum, in dem um 7.30 Uhr der Betrieb beginnt. An vier kleinen Tischen, weit auseinandergezogen, stochern sich Kinder mit weißen Stäbchen in den Nasenlöchern, beaufsichtigt von zwei Lehrkräften. Auf einer langen Turnhallenbank reifen Teststreifen vor sich hin. Heute werden alle negativ sein.

Bei früheren Tests gab es immer mal wieder einen Coronafall

Vor den Osterferien hätten sie die halbierten Gruppen im Klassenraum getestet, berichtet die Schulleiterin. „Da hatten wir immer mal wieder einen Corona-Fall.“ Wesentlich angenehmer sei das Testen in der geräumigen Turnhalle, das Warten an frischer Luft. „Falls jemand positiv getestet wird, ist es für die betroffenen Kinder nicht so deprimierend. Und ich brauche keinen anderen in Quarantäne zu schicken.“ Der Test ist verpflichtend für alle, andernfalls gibt es keinen Zutritt zum Unterricht.

Schulstart an der Mülheimer Hauptschule, Dependance Gathestraße: Schon frühmorgens um halb acht warten die Kinder vor dem schuleigenen Testzentrum in der Turnhalle.
Schulstart an der Mülheimer Hauptschule, Dependance Gathestraße: Schon frühmorgens um halb acht warten die Kinder vor dem schuleigenen Testzentrum in der Turnhalle. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Der Schulhof ist am Montagmorgen schon früh um halb acht gut gefüllt. Die Kinder warten in kleinen Grüppchen, zu zweit, einige alleine im Hintergrund. „Wie ich das sehe, freuen sich alle, dass die Schule wieder losgeht“, sagt Dragan (13). Er selber natürlich auch, und ebenso seine Klassenkameradin Leontina. Distanzunterricht hieß in ihrem Fall: Lernen per Handy. Geklappt habe das „nicht so ganz“, meint die 13-Jährige. „Ich habe nicht alle Aufgaben verstanden.“

„Distanzlernen hat gar nicht funktioniert und war echt schwer“

Ums Eck stehen drei Freundinnen zusammen, feiern Wiedersehen: Maria und Leonie waren bislang zusammen in einer Lerngruppe, Sladjana in der anderen. Monatelang haben sie sich nur über WhatsApp geschrieben, durften sich nicht treffen. „Unsere Eltern haben uns nicht gelassen.“ Nun ist das Mädchentrio aus der 6 c wieder komplett. Das Distanzlernen fanden alle Drei extrem nervend, obwohl sie inzwischen sogar Tablets zur Verfügung haben. „Es hat gar nicht funktioniert und war echt schwer“, beschwert sich Sladjana. Ihre Freundinnen stimmen zu: „Es gab viele Internetprobleme. Du wurdest ständig aus den Videokonferenzen rausgekickt und kamst nicht mehr rein.“

Mit Testbescheinigungen überfordert

Die Schule am Hexbachtal ist die einzige verbliebene Hauptschule in Mülheim.

Zum neuen Schuljahr 2021/22 wurden dort 36 Kinder angemeldet, im Vorjahr waren es 37. Damit können zwei Eingangsklassen gebildet werden.

Schwierig umzusetzen findet Schulleiterin Barbara Kromer die Neuregelung, wonach Schulen ab sofort Bescheinigungen über Coronatests ausstellen können.

Die Kinder müssen in vorbereitete Formulare ihren Namen, ihr Geburtsdatum und ihre Adresse eintragen. „Spätestens bei der Postleitzahl werden die meisten nicht mehr weiterkommen“, fürchtet Kromer.

Sehr aufwändig seien diese Testbescheinigungen für die Lehrkräfte. „Daher machen wir das nur auf Zuruf.“

Lehrer Matthias Hallmann erzählt später, dass viele Schulkinder freies WLAN in Geschäften nutzen, die allerdings auch geschlossen waren. Die Schulleiterin kennt noch einen Fernlernort: McDonald’s, ebenfalls lange im Lockdown. Auch sie fand die Videokonferenzen sehr mühsam. Viele Kinder können, wenn überhaupt, nur per Handy teilnehmen, dauernd verschwinden sie wieder im Off. „In einigen Ausnahmefällen waren Lehrer auf dem Fahrrad unterwegs und haben Material bei den Familien vorbeigebracht.“ Da es nur eine Hauptschule in Mülheim gibt, wohnen die Kinder weit über die Stadt verstreut.

Notenvergabe nach dem Motto: Im Zweifel für den Angeklagten

„Jetzt holen wir unsere Schüler erst mal zurück“, sagt Barbara Kromer. „Wir sprechen über Ängste, darüber, was ihnen gefehlt hat. Es geht nicht darum, auf Biegen und Brechen sofort Arbeiten zu schreiben.“ Handlungsorientierte Fächer haben jetzt Vorrang: Hauswirtschaft, Technik, Sport. Besonders Sport. „Damit unsere Kinder Spaß haben.“ Unausweichlich drohen aber in wenigen Wochen Zensuren, Zeugnisse, und auch am Ende dieses Extremschuljahrs kann man sitzen bleiben. Barbara Kromer und ihr Team wollen bei der Notengebung nach bewährtem Muster verfahren, es klingt hart, ist aber herzlich: „Im Zweifel für den Angeklagten.“