Hattingen. Als der Krieg endet, ist Lore Schulte in Hattingen 16. Die Erlebnisse verfolgen sie noch 80 Jahre später. Ihre bildhafte Erzählung geht ins Mark.
„Der Junge stand stramm und weinte. Wenn du den Befehl gibst, bist du ein Mörder“: Lore Schulte aus Hattingen wird in diesem Jahr 96 Jahre alt. In ihrem Leben hat sie vieles erlebt. Und einige Erinnerungen verfolgen sie seit Jahrzehnten. Die Seniorin möchte, dass diese Erinnerungen und die damit verbundenen Gräuel nie vergessen werden.
Auch weil ihr aktuelle Entwicklungen, wie die Montagstrommler, die in wöchentlichen Aufmärschen durch die Stadt ziehen, Sorge bereiten, will Lore Schulte ihre Erlebnisse teilen. Deshalb hat sie das, was sie als junge Frau in den letzten Kriegstagen erlebte und sie seither nicht loslässt, aufschreiben lassen. Auch als Mahnung. Hier sind ihre schrecklichen Erinnerungen an den April und Mai 1945 - in ihren eigenen Worten.
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Der Späher ist dem Tod geweiht
Amerikanische Soldaten waren vorgedrungen bis zum Weitmarer Holz. Die Front verlief über Stiepel bis zum Rauendahl. Die Amerikaner lagen bei Bauer Obernbaak, gegenüber, getrennt durch das Tal, lag unser Haus. Sie schossen eine Ladung in unseren Taubenschlag im Dach. Ein großes Loch.
Drei übernächtigte Soldaten gruben sich einen Schützengraben in unserem Garten. Vorne war einer mit Maschinengewehr, der dahinter musste die Gegend dahinter beobachten. Den Dritten haben wir manchmal ins Haus geholt zum Schlafen.
Der jüngste Soldat, 17 Jahre alt, bekam vom Feldwebel den Befehl, auszuspähen, bis wohin die Amerikaner auf der Donnerbecke gekommen waren. Der Junge stand stramm und weinte. Mein Vater ging dazwischen und sagte zum Feldwebel: „Wenn du den Befehl gibst, bist du ein Mörder.“ - Er hob den Befehl auf.
Lore Schulte wurde im November 1928 an der Donnerbecke, direkt an der Grenze von Hattingen zu Bochum, geboren - als Hausgeburt. Sie wuchs dort auf einem alten Bauernhof auf. Als sie die letzten Kriegstage erlebte, war sie 16 Jahre alt. Ihr Leben hatte sie bis dahin auch mit Artus verbracht - ihrem Hund und besten Freund.
Abschied vom geliebten Tier
Der Kirchturm der evangelischen Kirche in Linden brannte, dort saß ein Spähtrupp. Unser 16 Jahre alter Artus konnte das Wasser nicht mehr halten und nicht mehr laufen. Die einschlagenden Granaten kamen immer näher. Die Amerikaner waren bestimmt schon in Weitmar. Da nahm mein Vater Artus auf den Arm und trug ihn zu unserem geliebten Pflaumenbaum und erschoss ihn.
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„Parole!“
Parole: Jeden Abend ein neues Wort, das jeder Soldat kennen musste. Wenn es dunkel war und der Vorposten etwas sah oder hörte, rief er „Parole“. Dann musste sein Gegenüber antworten mit dem geheimen Wort.
An einem Abend berieten unsere drei Soldaten, denn einer meldet sich nicht, antwortet nicht auf „Parole“. So schießt sein Gegenüber auf ein Bein. Das war so abgemacht. Sie brachten den angeschossenen Soldaten zu uns in den Keller, wir trugen ihn die Kellertreppe hinunter. Wir banden das Bein ab, weil es so blutete. Sanitäter kamen und brachten ihn ins Lazarett im Gemeindehaus.
Was Lore Schulte in jungen Jahren erlebte, prägte sie nachhaltig. Schon lange hatte sie den Wunsch, ihre Erinnerungen festzuhalten. Deshalb ließ sie zunächst die für sie lebendigsten Erinnungen mit Hilfe ihrer Urenkelin aufschreiben.
Das Haus voller Soldaten und Maschinengewehre
In der nächsten Nacht mussten alle deutschen Soldaten das Rauendahl aufgeben und sie setzten über die Ruhr zur Henrichshütte, um sie zu verteidigen. In unser Haus zogen 13 amerikanische Soldaten ein. Sie waren wohlgenährt, ihre Uniform sah ordentlich aus. Jeder hatte ein eigenes Fernglas.
Wir alle mussten in den Keller. Ich erinnerte mich, dass ich oben noch eine Schüssel mit Eiern hatte, also ging ich nach oben. Ein Amerikaner putzte gerade sein Gewehr mit dem Überhandtuch an der Wand. Vor allen Fenstern hatten sie Matratzen aufgebaut, obendrauf je ein Maschinengewehr in Schussbereitschaft. Ich nahm ganz schnell meine Eierschüssel und ging nach unten in den Keller.
Die Beute des Krieges
Das Haus war ein Einfamilienhaus, also ein Klo für alle - unsere Familie plus 13 Amerikaner mussten das Plumpsklo benutzen zwischen Kuh- und Schweinestall. Der Weg nach dort ging durch die Stube.
Dieses war der einzige beheizte Raum im Haus. Es war kalt und alle Amerikaner hielten sich tagsüber dort auf. Auf meinem Weg zum Klo musste ich durch die Stube. Jeden Morgen packte ein Amerikaner seine Schätze auf der Tischplatte aus: wohl mehr als 100 Armbanduhren, die er jeden Morgen aufzog und verglich, ob sie richtig gingen - dazu auch größere und Schmuckstücke. Der Soldat sagte, ich solle mir eine aussuchen. Ich sagte nein.
Darauf musste ich eine Kette nehmen, die ganz verschlungen war zu einem Klumpen, eine ganz hauchdünne Kette mit Rubin-Anhänger.
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Noch sehr bildlich hat Lore Schulte viele Erlebnisse im Kopf - obwohl sie mittlerweile fast 80 Jahre her sind. Auch Erlebnisse, die auf den ersten Blick banal erscheinen, prägten sich ins Gedächtnis der damals jungen Frau ein. Mit ihnen zeigt sie in teils knappen Worten die Seiten und Gesichter des Krieges.
Besatzer nehmen, was sie wollen
Die Amerikaner bekamen immer wunderbares Essen gebracht. Eine junge deutsche Frau aus den Häusern der Zeche Friedlicher Nachbar, wo die Bergleute wohnten, kam mit einem amerikanischen Soldaten mit breitem Seitengewehr. Sie musste dolmetschen.
Mein Vater sollte ein Huhn holen. Das tat er, aber der Amerikaner tobte, denn er verlangte eine Pute. Also holte mein Vater noch eine Pute aus dem Stall. Der Amerikaner nahm Huhn- und Putenbeine in seine Hand und schlug mit großer Wuchte die Köpfe der Tiere gegen die Mauer des Hauses. Freudig zogen sie ab mit den bewusstlosen Tieren. Wir waren traurig.
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Angriff der Kampfflieger: „Es stieg keiner aus“
Im Oktober war meine Mutter gestorben, im März war die Erde so eingefallen, dass das Grab mit Erde aufgefüllt werden musste. Mit einer Schubkarre voll Muttererde aus unserem Garten kamen wir auf dem Friedhof an. Da kreisten plötzlich zwei Sturzkampfflieger über uns. Mein Vater und ich krochen unter die großen Rhododendron-Sträucher.
Direkt neben dem Friedhof war die Verbandstraße, darauf fuhr ein VW in Richtung Hattingen. Im Sturzflug kam ein Flieger und schoss das Auto in Flammen, flog einen Bogen und schoss noch einmal, bis der der VW lichterloh brannte und liegen blieb. Es stieg keiner aus.
„Keiner durfte sehen, dass wir Kartoffeln pflanzten“
Es war Frühjahr, Zeit, dass gepflanzt und gesät werden muss. Aber wir hatten keine Saat mehr. Wir hatten Hunger und hatten alle Saatkartoffeln aufgegessen. Bauer Obernbaak hatte keinen Samen mehr für Viehfutter (Runkelsamen). Meine Tante in Thüringen schickte uns ein Päckchen mit einem Kilogramm Runkelsamen per Post. Runkelsamen sieht aus wie kleine schwarze Schottersteine.
Bauer Obernbaak war glücklich - er bekam von uns Runkelsamen und wir bekamen von ihm Saatkartoffeln. Jede teilten wir noch einmal und mein Vater pflanzte sie noch am gleichen Abend. Keiner durfte sehen, dass wir Kartoffeln pflanzten. Im Dunkeln brachten wir es fertig, die Heiligtümer in die Erde zu legen.
Das war ein neuer Anfang. Wir konnten bald die ersten Frühkartoffeln ernten.
Menschlichkeit über Verbote hinweg und Verrat spielen in der vorerst letzten Episode von Lore Schultes Kriegs-Erinnerungen die Hauptrolle.
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Der russische Kriegsgefangene am Küchentisch
Im ersten Kriegsjahr drangen deutsche Soldaten schnell nach Russland ein. Viele russische Soldaten wurden Gefangene. Unsere Verwandten Klara und Gustav hatten drei Söhne, die eingezogen wurden. Also konnten sie einen russischen Gefangenen bekommen, der schwere Männerarbeit verrichten konnte auf ihrem Bauernhof an der Ruhr.
Tochter Hildegard, die die Arbeit ihrer drei Brüder übernommen hatte, fuhr nach Schwelm und konnte selbst einen russischen Soldaten aussuchen. Sie entschied sich für Kiraj, 17 Jahre alt.
Er schien glücklich zu sein, als sie auf dem Bauernhof ankamen und durch den Kuhstall in die Küche mit dem Lehmfußboden gingen, in der alle Hühner herumliefen. Dort stand auch der große Esstisch, an dem Kiraj einen Platz bekam. Es war eigentlich verboten, aber Tante Klara sagte: „Wer für mich arbeitet, soll auch mit mir an meinem Tisch essen.“ Kiraj machte seine Arbeit gut. er hatte ein Zimmer zum Schlafen auf dem Heuboden.
In den Rücken gefallen
Gut gekleidet war er auch und manchmal am Wochenende besuchten ihn andere russische Gefangene, auch Frauen. Er hatte ein schönes Leben in der Bauernfamilie.
Dann kam der Tag, an dem wir erfuhren, wir hatten den Krieg verloren. Da alarmierte Kiraj alle seine Kumpanen und alle kamen und plünderten den ganzen Bauernhof. Sie wussten ja längst, wo Wertgegenstände und Kostbarkeiten versteckt waren...
Ob Lore Schulte weitere Erinnerungen festhalten wird, steht derzeit noch nicht fest. Sicher ist aber, dass die 95-jährige Hattingerin noch viele Erlebnisse in sich trägt. In einem vorherigen Gespräch mit der WAZ berichtete sie von ihren Erinnerungen an die Reichspogromnacht: „Die Blicke dieses Mannes verfolgen mich heute noch, ein Leben lang. Immer.“