Hattingen. Hattingen bekommt neue Stolpersteine für die Opfer der Nationalsozialisten. In Welper wird an Wilhelm Freisewinkel erinnert. Seine Geschichte.
Hattingen war eine Hochburg der Nationalsozialisten. Und neben vielen dunklen Kapiteln der Zeit, gingen auch die sogenannten Krankenmorde – Euthanasie – nicht an der Stadt vorbei. Es ist davon auszugehen, dass es davon sogar mehr gab als zunächst vermutet. Wilhelm Freisewinkel ist eines der Opfer. Ihm wird einer der neuen Stolpersteine gewidmet.
Am Fritz-Ebert-Ring 37 wird am Freitag (2.12.), der Stolperstein für Wilhelm Freisewinkel verlegt. Der Mann aus Baak wurde 30 Jahre alt, bevor er von den Nationalsozialisten 1941 in Hadamar umgebracht wurde. Der Grund: Der Hattinger war krank.
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Eigentlich hatte sein Leben 1910 in Baak ganz normal begonnen. Er macht eine Bäckerlehre in Welper, wird in der Weltwirtschaftskrise aber arbeitslos und verrichtet freiwilligen Arbeitsdienst. Bis er mit 23 Jahren an Hirnhautentzündung erkrankt. „Freisewinkel nennt es seine Kopfgrippe“, berichtet Stadtarchivar Thomas Weiß. Und weil die Behandlungsmethoden damals noch nicht ausgereift sind, behält er Wesensänderungen, Stimmungsschwankungen, zurück. Er wird sonderbar.
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Damit gerät Freisewinkel auch ins Visier der Nazis, die bereits 1933 ihre „Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen hatten. Nachdem sein Arzt Wilhelm Freisewinkel „Anstaltsbedürftigkeit wegen Gemeingefährlichkeit“ bescheinigt, lässt NS-Bürgermeister Bock den jungen Mann in die Heilanstalt Aplerbeck einweisen.
Verlegung des Stolpersteins und andere Fälle
Der Stolperstein für Wilhelm Freisewinkel wird am Freitag (2.12.) voraussichtlich gegen 14 Uhr am Fritz-Ebert-Ring 37 verlegt. Bürger sind willkommen. Stolpersteine verweisen in der Regel auf den letzten freiwillige gewählten Wohnort der Opfer der Nationalsozialisten. Initiiert wurde die Aktion von Künstler Gunter Demnig.
Archivar Thomas Weiß erinnert im Zusammenhang mit den Krankenmorden auch an den Hattinger Pfarrer Gerhard Baumjohann, der nachfragt, weshalb Mitglieder seiner Gemeinde, die in Heilanstalten landeten, plötzlich tot waren. Allein für das Nachfragen landete der Pfarrer drei Jahre im KZ Dachau.
Theresia Albers, die in Bredenscheid zunächst ein Heim für „schwachsinnige Mädchen“ betrieb, nannte es ab 1933 ein Heim für „schwererziehbare Mädchen“, betont Weiß und bescheinigt ihr eine gute Portion Bauernschläue mit der sie die Mädchen zu schützen versuchte.
Der Hattinger will nach Hause, eine wirkliche Therapie erhält er nicht, er stumpft ab und bekommt Halluzinationen. „Im Frühjahr 1941 gerät Wilhelm in die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten, die die Ermordung ‘nutzloser’, ‘lebensunwerter’ kranker Menschen zum Ziel hat“, weißt der Stadtarchivar.
Den Hattinger ereilt das Schicksal vieler Kranker: Innerhalb kürzester Zeit, im Abstand von zwei bis drei Wochen, wird er immer wieder in neue Heilanstalten verlegt „Die Angehörigen bekamen so gar nicht mit, wo ein Kranker gerade war und was mit ihm los war“, erklärt Weiß. Am Ende dieser Odyssee steht für Wilhelm Freisewinkel die Tötungsanstalt Hadamar, wo 1941 in nur acht Monaten mehr als 10.000 Menschen ermordet werden. „Höchstwahrscheinlich wird Wilhelm Freisewinkel unmittelbar nach seiner Ankunft in Hadamar am 30. Juli 1941 vergast“, sagt Thomas Weiß.
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Nun soll ein Stolperstein in Welper an das Schicksal des jungen Mannes erinnern. Er vertritt mit seiner traurigen Geschichte zahlreiche Opfer der Nationalsozialisten – auch aus Hattingen. Denn ein Einzelfall ist Wilhelm Freisewinkel nicht. „Euthanasie ist schwer aufzudecken“, betont Weiß. Bei Juden gebe es den Vermerk zur Religion, bei politischen Gegnern der Nazis Prozessakten. Bei Euthanasie gebe es keine solchen Hinweise – nur die Einweisung in eine Heilanstalt und der plötzliche Tod.
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„Todesursachen und Daten wurden in Ämtern oft gefälscht“, erklärt der Archivar und ergänzt: „Aber es fällt auf, wenn Verwandte sagen: ‘Vor sechs Monaten war noch alles in Ordnung’ und plötzlich steht da ‘Tod durch Schwäche’.“
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Im Fall von Wilhelm Freisewinkel brachte ein Angehöriger den Stadtarchivar auf die Spur. Er forschte in seiner Familiengeschichte. In der Geburtsurkunde ließ schließlich der Vermerk „Tod 1941 in Hadamar“ aufmerken. Nach Forschungen in den Einweisungsvermerken, geht Weiß davon aus, dass es in Hattingen allein „eine hohe zweistellige Zahl“ an Euthanasie-Morden gab. Von 50 bis 70 Fällen spricht der Archivar. Ihr Vergehen: Sie waren krank.