Hattingen. Zehn Jahre alt war Lore Schulte, als sie die brennende Synagoge in Hattingen sah. Erinnerungen der Zeitzeugin an die Reichspogromnacht 1938.
85 Jahre sind vergangen seit jenem Novembermorgen anno 1938, an dem sich Lore Schulte wieder einmal aufmachte zum Mädchengymnasium. Doch was sie auf dem Weg dorthin an jenem 10. November erlebte, kann sie bis heute nicht vergessen. Wird die inzwischen 95-Jährige doch Zeugin der schrecklichen Geschehnisse der Reichspogromnacht, in der auch in Hattingen die jüdische Synagoge in Brand gesetzt wurde.
„Es war schrecklich. Es war ja schließlich ein Gotteshaus, das da brannte“
„Warum? Immer wieder habe ich gefragt: Warum? Das hat mir keiner erzählt“, sagt Lore Schulte. Und dann: „Es war schrecklich, was ich damals sah. Es war ja schließlich ein Gotteshaus, das da brannte.“ Die Straßenbahn hatte sie an der Haltestelle nahe der Synagoge soeben verlassen, legte nun das letzte Stück ihres Schulweges zu Fuß zurück.
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Lore Schulte, die wenige Tage vor der Reichspogromnacht zehn Jahre alt geworden war, sagt, sie habe damals voller Entsetzen auf die Synagoge auf der Bahnhofstraße geblickt. „Es hat unheimlich stark gequalmt“, erinnert sie sich. Und dennoch sei „jeder einfach weitergegangen, auch habe ich niemanden gesehen, der das Feuer löschte“.
Flammen hatten sich an jenem Morgen längst durch das Holz gefressen, das Feuer legte das jüdische Gotteshaus in Schutt und Asche. Eine Thorarolle wurde noch aus diesem gerettet – und im Juni 1939 wohl dem Grab des verstorbenen Max Blume auf dem Jüdischen Friedhof am Vinckenbrink beigelegt.
Lore Schulte verweilt an jenem Morgen nicht lange vor der Synagoge, sie muss ja zum Unterricht. Und sie weiß: „Ich konnte mit meinem zehn Jahren nichts machen.“
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In der Schule spricht sie mit niemandem über das Erlebte. Nicht über die in den frühen Morgenstunden in Brand gesetzte Synagoge. Und auch nicht über die brennenden Schaufensterpuppen, die sie bereits kurz vor dem Besteigen der Straßenbahn in einem von einem Juden betriebenen Textilgeschäft gesehen hat. „Uns wurde immer eingetrichtert, Juden seien Schmarotzer. Und uns Kindern wurde stets gesagt: Was die Erwachsenen sagen, das stimmt. Wir haben das hingenommen.“
„Man konnte sich ja kaum wehren in diesem System“
Auch zu Hause, erinnert sich Lore Schulte, sei über den menschenverachtenden Umgang der Nazis mit der jüdischen Bevölkerung nicht wirklich geredet worden. „Man konnte sich ja kaum wehren in diesem System“, sagt sie mit leiser Stimme. „Jeder hatte Angst.“
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Es sind nicht viele Begebenheiten im Umgang mit der jüdischen Bevölkerung in Nazi-Deutschland, über die Lore Schulte spricht. Aber neben dem Anblick der brennenden Synagoge hat sich ihr ein weiteres Bild bis heute tief ins Gedächtnis eingebrannt: Wie ein Jude mit dem Davidstern auf der Kleidung Jahre nach der Reichspogromnacht an einer Haltestelle stehen gelassen wird und wie er sie, in der vollen Straßenbahn fahrend, traurig anblickt.
„Es war ein netter Herr, älter. Doch ich konnte nichts machen. Denn für einen Juden“, sagt Lore Schulte mit stockender Stimme, „durfte man damals keinen Platz machen.“ Und dann, nach kurzer Pause: „Die Blicke dieses Mannes verfolgen mich heute noch, ein Leben lang. Immer.“
An der abgebrannten Synagoge geht Lore Schulte nur noch mit mulmigem Gefühl vorbei
An der abgebrannten Synagoge geht Lore Schulte in den darauffolgenden Wochen nur noch mit abgewandten Blick und mulmigem Gefühl vorbei, im Februar 1939 wird die Ruine der ausgebrannten Synagoge abgebrochen.
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Heute erinnert auf dem ehemaligen Synagogengrundstück nichts mehr an das jüdische Gotteshaus. Aber auf dem Synagogenplatz ganz in der Nähe mahnt seit 1987 ein Gedenkstein der Hattinger Künstlerin Ulla H’loch-Wiedey, die Gräuel der Nazis gegen die Mitglieder der hiesigen Synagogengemeinde nicht zu vergessen.